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Ruhrgebietssage 9: Der Werwolf am Bahnwärterhäuschen

 

Illustration: Gert Albrecht
Illustration: Gert Albrecht

neu erzählt von Hartmut El Kurdi

Sagen aus dem Ruhrgebiet
Das Ruhrgebiet ist 2010 »Kulturhauptstadt Europas«, das ist eine Auszeichnung der Europäischen Union (kurz EU) für besonders interessante Städte. Es gibt im Ruhrgebiet zwar mehr als 50 Orte, doch auf der Landkarte sehen sie aus wie eine Riesenstadt.
Im Februar erscheint ein Buch, in dem die Märchen und Sagen dieser spannenden Region neu erzählt werden. Die zehn besten Geschichten lest Ihr bei uns schon jetzt

Das Wort »Werwolf« kommt aus dem Germanischen: »Wer« heißt »Mann«, und »Wolf« heißt … na ja, klar, was sonst: »Wolf«. »Werwolf» bedeutet also »Mannwolf« oder »Menschwolf«. Die meisten Leute kennen Werwölfe nur aus Gruselfilmen. In diesen Filmen verwandeln sich Menschen bei Vollmond in einen Wolf, und das sieht dann meistens so aus: Erst wächst ihnen ein schlimmer ungepflegter Vollbart, dann ist ruck, zuck auch der Rest des Gesichts mit zotteligen Haaren bedeckt, und innerhalb von wenigen Minuten breitet sich das Fell auf dem ganzen Körper aus. Aus Händen und Füßen werden krallige Pfoten, und aus kariösen Menschenzähnen wird ein gefährliches, weiß blitzendes Raubtiergebiss. In den Filmen fallen die Werwölfe dann Menschen an und machen furchtbare Dinge mit ihnen. Auffressen und so. Na ja, sind ja Gruselfilme. Was will man da erwarten!
In den Werwolf-Sagen aus dem Ruhrgebiet sind die Werwölfe zwar auch keine Schoßhündchen, aber ganz so schlimm wie die Filmwölfe scheinen sie nicht gewesen zu sein. Zwar verwandelten sich auch in diesen Geschichten Menschen in Wölfe und versuchten andere Menschen zu erschrecken, aber meistens taten sie dies folgendermaßen: Der Werwolf wartete irgendwo in einem Busch oder hinter einem Baum auf sein Opfer, sprang ihm auf den Rücken und krallte sich fest, bis der Überraschte dann irgendwann vor Erschöpfung zusammenbrach. Dann verduftete der Werwolf wieder. Zwar kam es auch mal vor, dass jemand vor Schreck starb, aber das war dann wohl eher ein Versehen. Was dieses Auf-den-Rücken-Springen genau sollte, wird in den Sagen nicht erzählt. Der Job eines Werwolfs war es anscheinend, Leute anzuspringen und zu erschrecken. So wie es der Job eines Vampirs war, im Sarg zu liegen, nach Muff zu riechen und Blut zu saugen, oder der einer Kuh, Gras zu fressen und »Muh« zu machen. Versteh einer die Welt …

Hier soll nun die Geschichte vom Werwolf am Bahnwärterhäuschen von Schmachtendorf erzählt werden. Schmachtendorf ist heute ein Stadtteil von Oberhausen, war aber früher ein eigenes Dorf. Als 1856 die Eisenbahnstrecke von Oberhausen nach Arnheim in den Niederlanden in Betrieb genommen wurde, führte sie auch an Schmachtendorf vorbei. Da, wo die Gleise die Hühnerstraße kreuzten, wurde ein Bahnwärterhäuschen errichtet. Den ganzen Tag und die ganze Nacht musste darin ein Bahnwärter sitzen und aufpassen. Immer wenn ein Zug kam, ließ er die Schranke herunter, damit niemand aus Versehen platt gefahren wurde. Das war eigentlich ein ziemlich leichter Job, wenn man nicht grade dagegen ankämpfte, einzuschlafen. Viel leichter als die Arbeit als Knecht auf einem Bauernhof oder in der Eisenhütte. Und deswegen waren solche Stellen als Bahnwärter sehr begehrt.
Nur den Bahnwärter-Job in Schmachtendorf wollte so recht keiner haben. Zwei Bahnwärter hatten ihn schon hingeschmissen, weil sich dort angeblich um Mitternacht ein Werwolf herumtreibe. Als sich Hermann, der Held unserer Geschichte, bei der Eisenbahngesellschaft bewarb und der Beamte den Werwolf erwähnte, sagte Hermann, etwas mutiger, als er in Wirklichkeit war: »Werwolf? Der soll mal ruhig kommen, dann gibt’s was vore Omme, und Ruhe is!«, was so viel hieß wie, dass er dem Wolf ordentlich eine ballern wollte. Der Bahnbeamte war beeindruckt: »Na, das klingt doch nicht schlecht. Wir haben zwar noch einen anderen Bewerber, aber Sie scheinen mir doch der Richtige zu sein!«
Und so bekam Hermann die Stelle. Sicherheitshalber wollte er in der ersten Nacht aber doch ein paar Kumpels mitnehmen, die ihm zur Seite standen, wenn er dem Werwolf klarmachte, wer hier der Chef war. Als er die Freunde allerdings fragte, sah er in entsetzte Gesichter: »Schmachtendorf? Bist du irre? Nie im Leben!«, antwortete einer der Freunde. »Ich glaube, es hackt!«, zischte ein anderer: »Ich bin doch kein Hundefutter!» Aber schließlich konnte er sie doch überzeugen, nicht zuletzt, indem er ihnen einen Kasten Bier und einen leckeren Mitternachtsimbiss versprach. Nur einer drückte sich, mit der Ausrede, er habe eine »Wolfshaar-Allergie«. Na ja, es gibt eben solche und solche Freunde.
Und so zog Hermann mit sechs Freunden ins Bahnwärterhäuschen. Die Abmachung war folgende: Wenn sich der Werwolf bis ein Uhr, also bis zum Ende der Geisterstunde, noch nicht gezeigt hatte, durften seine Freunde wieder nach Hause. Und so saßen sie da, tranken, aßen Schnittchen und warteten. Und wie es oft so ist, wenn man auf etwas wartet – es dauert und dauert, und am Ende passiert nichts.
Als der Werwolf bis ein Uhr noch nicht mal in der Ferne geheult hatte, geschweige denn aufgetaucht war, sagte einer von Hermanns Freunden: »So, Feierabend! Vielen Dank für Speis und Trank! Ich muss dann ma’!« Er stand auf, und die anderen folgten ihm. Hermann brachte sie noch vor die Tür, bedankte sich für ihre Hilfe und winkte ihnen hinterher. Ein bisschen mulmig war ihm dabei schon.
Und tatsächlich: Kaum waren die Freunde außer Sichtweite, hörte er hinter sich ein Knurren. Er drehte sich um und sah den Werwolf, der gerade zum Sprung ansetzte. Geistesgegenwärtig machte er einen Schritt zur Seite, und der Werwolf, der ihm auf den Rücken springen wollte, landete im Dreck. Wäre Hermann nicht so panisch gewesen, hätte er gehört, wie der Wolf »Aua, mein Knie!« fluchte. Aber Hermann war – nix wie weg – ins Häuschen gerannt, um sein Gewehr zu holen. Als er jedoch die bereitgelegte Patrone greifen wollte, war sie verschwunden. In diesem Moment stand der Wolf aber schon in der Tür und funkelte ihn wütend an. Hermann schaute sich um: Womit konnte er sich wehren? Er sah den großen Schraubenschlüssel an der Wand. Und als der Wolf im nächsten Augenblick heulend und jaulend auf ihn zurannte, schnappte sich Hermann das eiserne Werkzeug und gab dem unheimlichen Tier damit einen Schlag auf die Schnauze.

Aaaah«, brüllte der Werwolf, »bist du bekloppt?« – »Wart ma’ ab, das war erst der Anfang, jetzt wirste richtig abgeschwartet!«, brüllte Hermann und verpasste ihm noch einen Schraubenschlüsselschwinger. »Hör doch auf, Hermann!«, jammerte der Wolf. Hermann stutzte. »Woher kennst du meinen Namen?« Der Wolf nahm eine Maske vom Kopf und zog sich das Fell von den Schultern. Darunter kam ein Mensch zum Vorschein. »Mann, ich bin’s doch, dein Freund Wilhelm!«, sagte der falsche Werwolf. »Hä? Was soll das denn?« Hermann konnte es immer noch nicht ganz glauben. Er fasste Wilhelm ins Gesicht. Es war ja nicht so richtig hell im Bahnwärterhäuschen. Tatsächlich, das war sein alter Kumpel Wilhelm, der mit der dicken Nase, die jetzt noch dicker war, weil er ihm mit dem Schraubenschlüssel draufgehauen hatte. Und genau dieser Wilhelm hatte heute Nacht nicht mitkommen wollen, wegen seiner angeblichen »Wolfshaar-Allergie«.
»Ich wollte dich doch nur erschrecken«, sagte Wilhelm, »da musste mich doch nicht gleich auf’n Kopp hauen.« – »Und warum, bitte schön, wolltest du mich erschrecken?«, fragte Hermann. »Weißt doch, wir haben doch schon wieder ’n Kind bekommen, und ich hab keine Arbeit und kein Geld. Da habe ich mich eben auch auf diesen Job hier beworben. Dann hieß es aber: Nee, da wäre so’n anderer Typ, so’n Hermann, der hätte keine Angst vor Werwölfen.« – »Du hast dich hier als Bahnwärter beworben?«, wunderte sich Hermann. »Klar, und da dachte ich, wenn ich den Hermann ma ’n bisschen erschrecke, dann haut der in den Sack, und ich krieg den Job. War ’ne bescheuerte Idee, ich weiß.« Hermann schüttelte den Kopf. »Das kannze aber laut sagen!« Und dann schauten die beiden sich an und mussten lachen.
»Willste ’n Schnittchen?«, fragte Hermann und hielt Wilhelm den Teller mit den übrig gebliebenen Mettwurstbroten hin. »Gürkchen sind leider alle!« Wilhelm griff zu, und auch Hermann nahm noch ein Brot. Und dann beschlossen sie, sich den Job zu teilen. Der eine machte die Tagschicht, der andere die Nachtschicht. Dann bestand auch keine Gefahr, dass man vor Übermüdung einschlief und vergaß, die Schranke herunterzulassen. Den Rest der Nacht erzählten sie sich übrigens Gruselgeschichten, bis zum Morgengrauen: von Werwölfen, Spukschlössern, Vampiren und kopflosen Gräfinnen.
Die Geschichte von Hermann, Wilhelm und dem Werwolf wurde in der ganzen Gegend schnell bekannt. Und danach hat dort nie wieder jemand einen Werwolf gesehen. Wahrscheinlich hatten die Angst, von da an nicht mehr ernst genommen oder gar ausgelacht zu werden. Vielleicht wanderten die Werwölfe deswegen auch alle nach Amerika aus und gingen zum Film, wo sie wenigstens wieder richtig gruselig sein durften. Kann doch sein!

Sauerländer Verlag
Sauerländer Verlag

Aus: „Ritter, Räuber, Spökenkieker. Die besten Sagen aus dem Ruhrgebiet“; ausgewählt von Dirk Sondermann, neu erzählt von Hartmut El Kurdi © Patmos Verlag/Sauerländer mit RUHR.2010
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