Der Thomanerchor aus Leipzig ist weltberühmt, die Sänger geben Konzerte in der ganzen Welt. Das ist für die Jungen harte Arbeit
Ja, wenn nur die Wirklichkeit genauso vergnüglich wäre wie ein Film! Leider ist sie das selten. Ganz so nett, frei und fröhlich wie im Fliegenden Klassenzimmer geht es im Internat des Thomanerchors in Leipzig jedenfalls nicht zu, und das hat vor allem damit zu tun, dass Singen dort harte Arbeit ist. Dreimal in der Woche treten die Jungen in der Leipziger Thomaskirche auf, dazu kommen Tourneen nach Japan, China, Amerika. Für all diese Konzerte müssen die Sänger proben, proben, proben. Das ist ziemlich hart für Jungen zwischen acht und 18 Jahren, weil sie auch noch den normalen Schulstoff des Gymnasiums schaffen müssen. Manche Thomaner-Eltern haben sich schon darüber beschwert, dass ihren Kindern zu wenig Zeit für die Hausaufgaben bleibt – und erst recht zu wenig Zeit zum Spielen oder Lesen.
Immerhin schuften die rund hundert Schüler für einen wirklich berühmten Chor: Er wurde im Jahr 1212 (es gibt ihn also seit fast 800 Jahren!) gegründet und war schnell über die Stadt Leipzig hinaus bekannt. Von Anfang an durften nur Jungen – Knaben – in diesem Chor mitsingen. Kirchenmusiker und andere Fachleute sind sich einig, dass Jungenstimmen einen ganz besonders schönen Klang haben und dass Mädchenstimmen diesen Klang (der manchmal sogar mit Engelsgesang verglichen wird) nur stören würden. Als Mädchen darf man diese Meinung ruhig seltsam finden, aber so ist nun einmal die Tradition. (Traditionen sind Sachen, die schon immer so gemacht wurden und über die Leute aus Gewohnheit nur ungern diskutieren möchten.)
1723 wurde der berühmte Musiker und Komponist Johann Sebastian Bach (er lebte von 1685 bis 1750) Thomaskantor in Leipzig. Das heißt, er war von diesem Zeitpunkt an der Chorleiter und konnte die Sängerknaben ausschimpfen, wenn sie seiner Ansicht nach nicht richtig sangen. Die Musik Johann Sebastian Bachs erscheint vielen Menschen als die vielleicht schönste der Welt, deshalb ist der Thomanerchor heute auch immer noch besonders stolz auf seinen berühmten Kantor und übt seine Werke extra sorgfältig.
Der Film Das Fliegende Klassenzimmer zeigt das Internat, die Wohnschule der Thomaner, etwas gemütlicher, als es in Wirklichkeit ist. Die echten Schüler nennen es den »Kasten«, schlafen zu zehnt in einem Schlafsaal und sind an äußerst unluxuriöse Waschräume gewöhnt. Sie müssen auch noch ihren älteren Mitschülern gehorchen – was, wie im Film gezeigt, eine wirkliche Plage sein kann. Wahrscheinlich hat der Regisseur des Klassenzimmer-Films das Internat auch deshalb als Drehort ausgesucht, weil es nicht so modern aussieht wie andere Schulen. Schließlich spielt Erich Kästners Buch in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, und damals waren einfache Unterbringung, strenge Erziehung und absoluter Gehorsam der Schüler eine Selbstverständlichkeit. Mag sein, dass man bei den Thomanern heute noch ein wenig mehr von diesen Dingen findet als an anderen Schulen.
Doch nur anstrengend, nur strikt, nur furchtbar finden die Thomaner ihre Chor- und Internatszeit gewiss nicht, schließlich beschäftigen sie sich jeden Tag mit überwältigender Musik. Wie sehr diese Musik Menschen verzaubern kann, erlebte die ZEIT-Redaktion vor wenigen Jahren, als eine Gruppe von Thomanern bei uns zu Gast war, die Räume der Zeitung besichtigte und spontan ein kleines Konzert auf dem Flur gab. Da kamen die gehetzten, viel beschäftigten Redakteure aus ihren Büros und hörten ganz still zu, und manche hatten Tränen in den Augen, weil der Gesang so schön war.
Susanne Gaschke