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Jetzt ist es weg

 


Wie wir versuchten, ein mutterloses Lamm zu retten, und es nicht geschafft haben: ZEIT-Reporterin Sabine Rückert berichtet über einen der traurigsten Tage in ihrem Leben

Später haben wir uns gedacht, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wir hätten ihn gar nicht erst bei uns aufgenommen. Später als er uns so viel Kummer gebracht hat, besonders den Kindern. Aber was will man machen, wenn einem ein neugeborenes Schafsböcklein auf der Weide Mäh rufend entgegenstakst und all seine Hoffnung auf die Menschen wirft, weil die eigenen Artgenossen es verlassen haben?

Ihr müsst wissen, dass wir auf dem Lande wohnen, am Rande einer hügeligen Wiese. Wir, das sind zwei Familien, die sich ein rotes Haus teilen: die Familie Müller mit den Kindern Valentin, 11, und Antonia, 5, und mein Mann und ich mit unserer dreizehnjährigen Tochter Lena. Drei Tage im April lebte auch noch – quasi als achter Bewohner – der kleine Schafsbock unter unserem Dach. Die Kinder hatten ihn hereingetragen. Er gehörte zu der Herde von Heidschnucken, die auf der Nachbarwiese das Gras abknabbern. Es sind zottige graue Geschöpfe auf Streichholzbeinen. Ihr Chef ist ein dicker Bock mit Hörnern, die aussehen, als habe man sie mit einer Lockenschere bearbeitet. Er hat sieben Frauen, die uns immer missbilligend anstarren, wenn wir die Wiese überqueren. Ihre Jungen, die nach Ostern geboren wurden, waren pechschwarz und hüpften lustig zwischen den Altschafen herum.

Aber dieses eine Junge hüpfte nicht. Als die Kinder es uns ins Haus stellten, war es schon sehr entkräftet. Seine Mutter hatte es verstoßen, warum, wussten wir nicht. Da stand dieses kleine Wesen nun mitten in der Küche auf wackeligen Beinen und machte „bäh“. Wie hilft man einem neugeborenen Lamm? Womit füttert man es? Darf man es in der Wohnung behalten? Oder ist das ungesund für das Tier? Diese Fragen mussten wir beantworten an jenem Montagabend, als alle Geschäfte geschlossen und alle Tierärzte Feierabend gemacht hatten. Wenn die Kinder uns einen Delfin vor die Füße gelegt hätten – wir wären nicht ratloser gewesen.

Schließlich teilten wir uns die Arbeit. Ich hängte mich ans Telefon und versuchte einen Schäfer aufzutreiben oder einen Tierarzt, der in der Praxis hängen geblieben war. Und bei Frau Müller siegte die Mutterliebe über die Tierhaarallergie: Sie ging mit den Kindern hinaus, um ein Schaf zu melken. Gemeinsam mit unserem Nachbarjungen gelang es ihr tatsächlich, eine empörte Heidschnuckenmutter zu überwältigen und ihr zwangsweise Milch abzuzapfen. Dass das nur unter Geblöke und Gestrampel möglich war, das könnt Ihr Euch denken. Immerhin brachten sie eine ganze Menge fetter gelber Schafsmilch mit, die unser Gast sofort aus dem Fläschchen nuckelte. Dann legte er sich in einen mit Decken ausgelegten Hundekorb, den ich neben meinem Bett aufgestellt hatte, und schlief ein.
Ich selbst habe die nächsten drei Nächte nicht geschlafen. In der ersten wollte das Schäfchen immerzu trinken. Alle zwei Stunden machte es „bäh“, und dann rannte ich in die Küche, um die Schafsmilch aufzuwärmen. Der Babybock stand hinter mir, den Kopf unter dem Nachthemd, und stupste mich unablässig an die Waden, was wohl heißen sollte: Mach schneller!

Am nächsten Morgen ging Frau Müller mit unserem Gast zu einem Schäfer und kaufte – wie ein Schafsdoktor es uns empfohlen hatte – Lämmerersatzmilch. Das Lamm verschlang sie freudig. Aber es hat sie nicht vertragen. Als ich am späten Nachmittag nach Hause kam, hatte es Durchfall. Frau Müller hatte ihm eine Pamperswindel um das Hinterteil geschlungen, und die Kinder, die dachten, es werde bald wieder gesund, lachten, weil der kleine Bock da in seinen Windelhöschen mitten im Wohnzimmer stand. Sie sagten, er sehe aus wie ein „Alien in Unterhose“. In der zweiten Nacht hatte das Lämmchen Bauchweh, und ich musste es ungefähr jede halbe Stunde wickeln. Am nächsten Morgen ging ich, grau vor Müdigkeit, zur Arbeit und Frau Müller mit dem abgemagerten schwarzen Böcklein zum sogenannten Arzt für Nutztiere. Den ganzen Tag dachte ich bloß an das Schaf, obwohl ich mit wichtigen Menschen telefonierte und kluge Herren interviewte. Das führte dazu, dass ich ihnen dumme Fragen stellte, meine Aufzeichnungen bloß wirres Gekritzel wurden und ich nicht einmal den Eingang in das Büro eines Rechtsanwalts finden konnte – obwohl ich direkt davorstand.

Am Nachmittag kehrte ich heim, da war der Durchfall vorbei. Das Schaf hatte Spritzen und sogar eine Infusion bekommen – jetzt schien es ihm besser zu gehen. Aber es wollte nicht mehr trinken und war sehr unruhig. Auf seinen kleinen Hufen trappelte es über den Holzboden unserer Wohnung, verkroch sich unter dem Schaukelstuhl und rumorte in den dunklen Ecken. Was will es bloß, fragten wir uns. Und ahnten tief drin, dass es einen Platz zum Sterben suchte.

In der dritten Nacht schlief ich nicht, weil unser Schäfchen starb. Ich hatte es ins Badezimmer gesetzt, denn es fror, und wir haben dort Fußbodenheizung. Um vier Uhr früh wachte ich von seinem „bäh“ auf. Ich lief hinüber und fand es schwach und zitternd. Ich rief alle Erwachsenen zusammen, und wir umstanden den Korb und sahen machtlos zu, wie das kleine Geschöpf, um dessen Leben wir seit drei Tagen kämpften, vom Tod geholt wurde. Aus Verzweiflung kochte ich noch schnell einen Kamillentee, aber als ich damit ankam, lag es schon ganz still, und Frau Müller sagte: Jetzt ist es weg.

Den Rest der Nacht weinten wir mit den Kindern, die aufgewacht waren, und am nächsten Tag ging ich auf Dienstreise, Frau Müller aber begrub mit unseren und den Nachbarskindern unser armes Schaf. Vier Kreuze aus Zweigen hat es bekommen. Später fragten wir den Schäfer und die Nachbarn und den Tierarzt, was wir falsch gemacht hätten. Und alle sagten: Nichts! So was kommt vor.

Aber das ist für uns keine Antwort. Das könnt Ihr sicher verstehen. Und jetzt sagt mir, was wir nächstes Jahr machen sollen, wenn uns wieder um die Osterzeit ein verwaistes Lamm entgegenkommt.