Die Finnen sind Weltmeister im Bücherausleihen. Kinder gehen im hohen Norden aber nicht nur zum Lesen in die Bibliothek
Von Jenni Roth
In den Wäldern von Finnland leben die Trolle, heißt es, und weit im Norden der Weihnachtsmann mit seinen Rentieren. Das Land ist geheimnisvoll – und im Winter vor allem dunkel und eisig. Minus 40 Grad kalt kann es dort werden, und die Ostsee friert so fest zu, dass Autos darauf fahren können.
Was tun die Finnen im langen, dunklen Winter? Sie laufen Ski, sie gehen in die Sauna, sie trocknen Pilze – und sie lesen. Im Bücher ausleihen sind sie sogar Weltmeister: Mehr als 20 Romane, aber auch Filme oder CDs pro Jahr leiht sich jeder Finne durchschnittlich aus, viermal so viele wie ein Deutscher.
Die Bibliothek der Stadt Turku in Südwestfinnland ist 108 Jahre alt – und eine der besten im ganzen Land. Abgeordnete und Minister posieren hier gern für Fotos, und die Stadt macht bei Touristen Werbung mit ihrer tollen Bücherei. Besonders schön ist die Kinder- und Jugendabteilung. Die ist aufgebaut wie eine kleine Stadt: In der Mitte findet man den »Marktplatz« mit einer Pferdeschaukel und einer Theaterecke samt Kostümkiste. Drum herum stehen die »Häuser« – Leseecken mit verschieden hohen Regalwänden und den unterschiedlichsten Büchern: Da gibt es das »Fantasia-Haus«, das »Tier-Haus« und das »Sport-Haus«.
Hinter dieser Häuserreihe zieht sich Sanni gerade ihre Schuhe aus. Die Zwölfjährige mit dem weißblonden Pferdeschwanz lümmelt sich gleich in ihren Lieblingsplatz: einen mit grünem Stoff bezogenen Lkw-Reifen. Neben sich hat Sanni ein paar Manga-Comics gestapelt. Sie liebt alles aus Japan. Inzwischen hat sie so viel zusammengetragen – von Puppen bis Schmuck–, dass es für eine Ausstellung reicht: Bald darf sie ihre Japan-Sammlung für einige Wochen im Schaukasten mitten in der Bibliothek zeigen. So ist es hier eben: In Finnland gehört die Bücherei zum Leben dazu. »Für mich ist sie wie ein zweites Wohnzimmer«, sagt Sanni.
Vor etwa 200 Jahren konnten viele Finnen noch gar nicht lesen. Aber 1917 gab es eine große Veränderung. Bis zu dem Jahr war Finnland lange Zeit von Schweden und Russland beherrscht worden. Nun waren die Finnen unabhängig – und sie wurden sich schnell einig, was für ein eigenständiges Volk am wichtigsten ist: Bildung. Und das heißt: lesen können.
Schon wenige Jahre später trat ein Gesetz in Kraft, das jedem Ort eine öffentliche Bibliothek verordnete. Und wer weiter als zwei Kilometer von dieser Bibliothek entfernt wohnt, den besucht sie zu Hause: Busse mit Büchern an Bord fahren herum und halten im ganzen Land an fast 13000 Stationen.
Ein Gesetz, das finnischen Kindern vorschreibt, sich auch tatsächlich Bücher auszuleihen, gibt es natürlich nicht. Das ist auch gar nicht nötig. Die meisten gehen sowieso gern in die Bücherei. So wie Sanni. Obwohl sie an jedem Mittwochmorgen mit ihrer Klasse in den Regalen stöbern kann, kommt sie auch noch zwischen Schulschluss und Turntraining hierher. Oder sonntags.
Genau wie ihre Schwester Enni übrigens. Die ist 16 Jahre alt und hat es sich gerade auf einem quietschgelben Sofa bequem gemacht. Dort strickt sie an einem bunten, meterlangen Wollwurm. Der reicht schon fast um das ganze Sofa herum: Jeder, der Lust hat, strickt einfach mit. Der Wurm wächst schnell. Denn 1000 bis 2000 Kinder besuchen jeden Tag die Bibliothek von Turku, 4000 bis 5000 Besucher sind es insgesamt. Pro Tag! Bei 175000 Einwohnern ist das eine Menge.
Vielleicht ist die Bibliothek auch deshalb so beliebt, weil es hier nicht nur Bücher gibt. »Das ist hier unser Kino«, erzählt Sanni: »Und alles ist umsonst.« Wenn sie sich einen Film ausleiht, kostet das keinen Cent. Ebenso wenig wie die Bücher. Der Internetzugang ist gratis – und auch die 9000 Onlinezeitungen aus aller Welt. Es gibt hier Kinderbücher mit arabischen Schriftzeichen – und sogar Märchenstunden auf Arabisch.
»Die Bibliothek ist für alle da«, sagt die Leiterin Inkeri Näätsaari, »für Arme, für Reiche, für Arbeitslose und Bankmanager, für Finnen und Nichtfinnen.« Manche Menschen kommen auch zum Musikmachen: Wer kein Klavier hat, übt eben im Proberaum der Bibliothek – und kann seine Musik sogar aufnehmen und bearbeiten. Und natürlich kann man sich hier auch einfach mit seinen Freunden verabreden: »Wo sollte ich sie bei der Kälte denn sonst treffen?«, sagt Sanni.
Bibliothekschefin Inkeri findet es ganz in Ordnung, dass die Besucher nicht bloß zum Lesen herkommen: »Studien zeigen, dass Menschen, die in Bibliotheken gehen, gesünder sind und länger leben – hier kommen die Leute auf neue Ideen.« Die 14-jährige Niina schaukelt am liebsten mit drei Freundinnen in durchsichtigen Halbkugeln aus Plexiglas. Sie interessiert sich gar nicht besonders für Bücher: »Wir kommen zum Quatschen her. Oder zum Chatten auf Facebook.« Aber manchmal, verrät sie dann doch, krame sie sich ihr Lieblingskinderbuch wieder heraus, dessen Heldin »Mimosa« mit ihren magischen Kräften ein ganzes Kinderheim aufmischt.
Die Bibliotheksleiterin ist zuversichtlich, dass die meisten Besucher am Ende doch auch lesen: Niina ist ein gutes Beispiel. Aber auch die ganz Kleinen, die noch brabbelnd auf den Bären im Bilderbuch zeigen oder den Eltern zuhören, die ihnen vorlesen. Denn Inkeri Näätsaari weiß: Kinder, denen vorgelesen wird, lesen später eher auch selbst. Und Kinder, die lesen, haben es in der Schule viel leichter. So haben vielleicht all die tollen Bibliotheken dabei geholfen, Finnland zum Pisa-Weltmeister zu machen.