Wenn eines der wichtigsten Länder einer Region in Gewalt und Chaos versinkt, dann – so möchte man meinen – setzen seine Nachbarn alles daran, dieses zu verhindern. Seit gestern, Donnerstag, tagen die Außenminister und Regierungschefs der Afrikanischen Union (AU) in Addis Abeba – und wer jetzt glaubt, dass sie sich vor Sorge um Kenias rasanten Kurs Richtung Bürgerkrieg den Appetit verderben ließen, der irrt. Am Ende des ersten Sitzungstages, so berichtet es der Korrespondent der BBC, forderte einer der versammelten Außenminister, endlich über die Lage in Kenia zu diskutieren, was mit der Begründung abgelehnt wurde, man sei von der äthiopischen Regierung zum Dinner eingeladen. Die dürfe man nicht warten lassen. Soviel zum Krisenmanagement der AU.
In Kenia selbst ist ein Ende der Gewalt nicht abzusehen. Am Donnerstag erschoss ein Polizist in Eldoret, einer der am schlimmsten betroffenen Städte im Rift Valley, einen Parlamentsabgeordneten des oppositionellen „Orange Democratic Movement“ (ODM). Prompt wurden in Nairobi die Verhandlungen zwischen ODM und Regierung unter Vermittlung von Kofi Annan ausgesetzt. Doch kurz darauf gelang es Annan, die Kontrahenten wieder an einen Tisch zu bringen, und am Samstag morgen konnte der Ghanaer tatsächlich einen ersten Hoffnungsschimmer aufzeigen: Die Regierung von Präsidenten Kibaki und das ODM unter der Führung von Raila Odinga haben sich auf einen „Verhandlungsplan“ geeinigt – darunter „18 Aktionspunkte“, um die anhaltende Gewalt zu beenden. Demnach sollen beide Seiten ab sofort aufrührerische Äußerungen in der Presse und aufhetzende Textnachrichten an die Handys ihrer Anhänger unterbinden.
Außerdem wollen beide Seiten über eine Lösung der humanitären und der politischen Krise verhandeln, sowie zuguterletzt sogar die seit Jahrzehnten schwelenden Landkonflikte thematisieren. Diese sind ein zentraler Grund für den Fast-Bürgerkrieg, der kurz nach dem offensichtlichen Betrugsmanöver Kibakis am Abend der Präsidentschaftswahlen am 27.Dezember ausgebrochen war.
Annan – so hört man aus Nairoibi – hält nichts von einer Neuauszählung der Stimmen oder kurzfristig angesetzten Neuwahlen. Das ist auch gut so, denn die Wahlkommission ist seit dem Debakel Ende Dezember völlig diskreditiert. Und Neuwahlen sind angesichts der Sicherheitslage und der 300.000 Vertriebenen in absehbarer Zeit ohnehin nicht durchführbar. Also wird es womöglich auf eine „Große Koalition der Gangster“ hinauslaufen, auf eine Übergangsregierung unter Beteiligung Odingas mit festem Termin für Neuwahlen in ein oder zwei Jahren.
Innerhalb der nächsten „sieben bis fünfzehn Tage“ will Annan am Verhandlungstisch einen gemeinsamen Plan zur Entwaffnung von ethnischen Milizen und zur flächendeckenden Versorgung aller Vertriebenen entwickelt haben. Das ist angesichts der Borniertheit und Kaltblütigkeit der Kontrahenten wahrscheinlich ein realistischer Zeitrahmen. Aber angesichts der Ereignisse im Land fragt man sich erschrocken: Nichts als Reden? Zwei Wochen lang?
Denn die Vertreibungen weiten sich aus. Nachdem zehntausende von Angehörigen der Kikuyu von Milizen der Luo und Kalenjin aus dem Rift Valley in Flüchtlingslager gejagt worden sind, organisieren nun offenbar militante Kikuyu die Vertreibung von Luo und anderen ethnischen Gruppen aus der weiter östlich gelegenen Zentral-Provinz. Was vor über vier Wochen als gewaltsamer, ethnisch unterlegter Protest gegen einen offensichtlichen Wahlbetrug begann, ist nun zu ethnischen „Säuberungskampagnen“ eskaliert – nicht etwa organisiert von Staat und Armee, sondern von Dorfräten, Bürgerwehren und kriminellen Banden. Wahrscheinlich aber auch finanziert und angestiftet von Politikern beider Seiten.
In den Flüchtlingslagern, Hospitälern und Leichenschauhäusern ist die offensichtliche Verheerung zu sehen. Dann gibt es noch die „unsichtbaren Opfer“. Dazu gehören Kenias HIV/Aids-Patienten. Nach Schätzungen der UN sind 1.3 Millionen Menschen in Kenia mit dem Virus infiziert. Das Land hatte einst eine der höchsten Infektionsraten in Afrika. Ende der 90er Jahre berichteten Ärzte vom Massensterben in ihren Kliniken. Doch in den vergangenen Jahren ist es der Regierung, internationalen und nationalen Organisationen gelungen, die Infektionsrate zu senken und über 100.000 Patienten mit einer anti-retroviralen Therapie zu versorgen – also mit einer Kombination mehrerer Wirkstoffe zur Bekämpfung des Virus. Für die Patienten ist das eine Überlebensgarantie, vorausgesetzt, sie nehmen die Medikamente regelmäßig ein und ernähren sich ausreichend. Unterbrechen sie die ARV-Therapie, kann sich ihr Gesundheitszustand rapide verschlechtern und sie laufen sie Gefahr, gegen die Medikamente resistent zu werden. Das Gleiche gilt für Tuberkulose-Kranke.
Genau darin besteht eine der Langzeitfolgen der Kämpfe und Vertreibungen: Unter den über 250.000 Binnenflüchtlingen befinden sich Tausende HIV/Aids-Patienten, die seit Wochen keine Medikamente mehr erhalten haben. In Eldoret haben die Ärzte des örtlichen Universitätskrankenhauses ihre Studenten losgeschickt, um in den Flüchtlingslagern nach Infizierten zu suchen und sie mit Tabletten zu versorgen. Das Problem sei nur, sagt der zuständige Epidemologe Samson Ndege am Telefon, „dass die Situation immer wieder zu gefährlich ist für unsere Studenten.“ Im Klartext: Eldoret ist eine Hochburg der Ethnie der Kalenjin, die nach den manipulierten Präsidentschaftswahlen systematisch Jagd auf Angehörige der Kikuyu gemacht haben. Die Kikuyu unter Ndeges Studenten riskieren also Kopf und Kragen, wenn sie sich auf die Straße wagen. Die Kalenjin unter ihnen wiederum stoßen auf das Misstrauen der Menschen in den Flüchtlingslagern. Schließlich gehören sie derselben Ethnie an, wie jene Männer, die ihre Häuser und Geschäfte niedergebrannt haben. Und Ndege selbst? Hat er Angst? „Nein“, sagt er. „Ich bin Kalenjin. Mir tun sie nichts.“
In der Hauptstadt Nairobi stehen Ärzte und Nothelfer vor einer ähnlichen Situation. Hunderte von HIV/Aids-Patienten in den Slums von Kibera und Mathare haben seit Wochen ihre ARV-Medikamente nicht mehr abgeholt. Einige sind bei den Gewaltausbrüchen womöglich ums Leben gekommen, andere sind vertrieben worden, wieder andere trauen sich nicht mehr zu den Ausgabestellen, weil die Umgebung von bewaffneten Gangs kontrolliert wird. Kibera, Nairobis größter Slum, gilt als Hochburg der Anhänger des Oppositionsführers Raila Odinga. Dort dominieren Angehörige der Luo, Odingas Ethnie, das Geschehen. In Mathare haben Kikuyu-Banden die Oberhand.
Auch die Infektionsrate dürfte wieder gestiegen sein. Durchschnittlich zehn Vergewaltigungsopfer melden sich derzeit täglich im Frauen-Krankenhaus von Nairobi zur Behandlung. „Normal“, sagen die Ärztinnen, „sind vier Fälle am Tag.“ Im Rift Valley ist die Situation noch sehr viel dramatischer: gut zwei Drittel der Menschen in den Flüchtlingslagern sind Frauen und Kinder. Viele sind von ethnischen Milizen bei den Überfällen auf ihre Häuser vergewaltigt worden. Die Camps sind nur unzureichend geschützt. Frauen, die Feuerholz oder Wasser holen wollen, riskieren, erneut überfallen zu werden. Betroffen von sexueller Gewalt sind – das berichten Flüchtlingshelfer – auch Männer und Jungen. Wieviele von ihnen in einigen Monaten in der Aids-Statistik des Landes auftauchen werden, vermag noch niemand zu sagen.