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Fellini in Kinshasa

 

Beach Ngobila, gegen halb vier Uhr nachmittags. Sie preschen um die Ecke Richtung Markt, als müssten sie eine Festung stürmen. Vornweg die Beinamputierten auf Dreirädern, schwitzend die Handpedale kurbelnd. Ihre Gesichter sind verzerrt vor Angst aus der Kurve zu kippen. Auf ihren Ladeflächen türmen sich Kisten und Säcken. Links und rechts schieben, zerren und brüllen ihre Gehilfen, Halbwüchsige mit gesunden, kräftigen Armen und Beinen. Dazwischen lauern, hoch konzentriert, die  Straßenkinder auf ihre Chance – einen Unfall, einen Wagenbruch oder eine herunterpurzelnde Kiste. Auf Kniehöhe wischt ein bulliger Kerl vorbei. Als hätte ihn jemand in der Mitte durchgehauen, sitzt sein Rumpf auf einem Holzbrett mit Rädern, er schiebt sich mit den Händen voran, weicht geschickt den Schlaglöchern und den Krüppeln aus, die auf Krücken hinterher spurten und ihre Beine wie die einer Marionette hin-und her schleudern.
Fellini in Kinshasa? Nein. Die Fähre aus Brazzaville ist angekommen. Ada steht mitten im Gewühl und sagt, ich solle beim Markt auf ihn warten, bis alles abgewickelt ist.

Ada Ketou ist 36 und vom Kopf bis zur Hüfte ein muskulöser Mann. Seine Beine sehen aus wie zwei abgeknickte Hölzer. Ich habe ihn das erste Mal 2002 getroffen und eine Geschichte über ihn geschrieben, die ich ihm jetzt, sieben Jahre später, mitbringe. Bisschen spät, findet Ada, aber besser als nie.

Ada erkrankte mit sechs Jahren an Polio. Eine Tante habe ihn verhext, hatte er mir erzählt, aus Eifersucht, weil er beliebter und hübscher gewesen sei als ihre eigenen Kinder. Wenn jeder Eifersuchtsanfall solche Folgen hätte, d ich mir, säße ganz Kinshasa im Rollstuhl.

Aus Ada Ketou wäre in den meisten anderen afrikanischen Ländern ein Bettler geworden. In Kinshasa ist er Vizepräsident einer Gewerkschaft, Mitglied einer Fußballmannschaft, Warenimporteur und Exporteur am Beach Ngobila. Außerdem verheiratet und Vater von fünf Kindern.

Beach Ngobila ist kein Badestrand, sondern Kinshasa in Reinkultur: Verkehrsknotenpunkt, Industrieruine, Warenumschlagplatz, Jagdgebiet für Polizisten und Zöllner, kleinkrimineller Brennpunkt, Solidargemeinschaft, Müllhaufen und Herrschaftsgebiet der Amputierten, Behinderten und Kriegsversehrten. Zweimal am Tag kreuzt die Fähre, ein Kahn, der an Humphrey Bogarts „African Queen“ erinnert, den Fluss zwischen Kinshasa und Brazzaville, beladen mit Warenbergen und Menschentrauben. An drei Tagen in der Woche tauscht Ada seine Krücken gegen den selbstgebauten Lastrollstuhl, belädt ihn mit Seife, Waschpulver, Streichhölzern, Schaumgummi-Matratzen oder was immer in Kinshasa gerade billiger ist als in Brazzaville, rollt mit Gebrüll hinein in die schubsende, keifende Menschenmenge und auf den morschen Planken hinauf an Bord.

Auf der anderen Seite das gleiche Spektakel, jeder handicapé hat an beiden Ufern seine halbwüchsigen Gehilfen, die beim Be-und Entladen helfen, Straßenkinder verjagen und wie kleine Eisbrecher Schneisen durch das Gewühl zu den Marktfrauen schlagen. Für sechs Dollar kauft Ada in Kinshasa einen Karton Seife, für acht verkauft er ihn in Brazzaville. Zurück fährt er mit bunt bedruckten Stoffen, safrangelb, azurblau, karminrot, afrikanische Muster, alles made in China. Acht Dollar pro Bahn, in Kinshasa zahlen die Händlerinnen zehn. Das klingt nach einer sicheren Profitmarge, aber die Zeiten sind schlecht, der Umsatz rückläufig, der Kurs des kongolesischen Franc taumelt. Außerdem müssten auch die Behinderten jetzt Zoll zahlen, behauptet er.

Mobutu hatte seinerzeit bei seinen Orgien der Selbstbereicherung immer wieder ein paar Krümel für das Volk fallen gelassen. Für die Behinderten und Gelähmten, von Gott und den Geistern genug gestraft, verfügte er eine Zollbefreiung. Das schuf einen Marktvorteil, ein Monopol und (mindestens) eine Gewerkschaft, die  Union des handicapés pour devéloppement (UHPD), die „Vereinigung der Behinderten für Entwicklung“. Im Volksmund auch „die Römer“ genannt, weil sich Geschäftsleute in Kinshasa zumindest anfangs an die Mafia erinnert fühlten. Wer sich mit der UHPD anlegte, hatte schnell ein Kommando Einbeiniger, Buckliger und Hinkender vor der Ladentür. Was den Umsatz empfindlich schmälern kann, denn kein Kinois geht gern in ein Geschäft, das von Verhexten blockiert wird.

Ada lächelt sein Sunnyboy-Lächeln. Alte Geschichten, alles übertrieben. Außerdem müsse jeder sehen, wo er bleibt. Das Leben werde ja nicht billiger. Die Fahrt auf der Fähre koste inzwischen fast zehn Dollar, Mitgliedsbeiträge und Sozialabgaben an die UHPD sind abzuführen, Gehilfen müssen bezahlt, Polizisten bestochen werden. Ich solle morgen mitkommen, sagt Ada, nach Brazzaville. „Wir spielen am Sonntag gegen die andere Seite.“ Geht nicht, sage ich, kein Visum.
„Die andere Seite“ – das ist die Fußballmannschaft der handicapés aus Brazzaville, Hauptstadt der Republik Kongo. Fußball trifft die Sache nicht ganz. Es handelt sich um Bodenakrobatik. Die Spieler bewegen sich auf Händen und Knien, hechten und rollen übers Feld. Ada sitzt oder kniet im Tor. Seine Mannschaft hat  noch eine Rechnung offen gegen Brazzaville, denn das letzte Spiel ging vor heimischem Publikum verloren.
Irgendwelche Schwachpunkte in der Mannschaft?
Welch eine Frage. „Bei uns gibt’s keine Schwachpunkte.“
Am Montagmorgen ruft Ada an. Statt der Revanche gab es nur ein Remis. 1:1. Er klingt kleinlaut, weswegen ich einen Torwartfehler vermute und nach etwas Aufmunterndem suche.
„Spielen Deine Kinder Fußball?“
„Ja. Der Älteste ist gar nicht schlecht. Ist schnell, der Kleine.“ Und läuft auf zwei Beinen.
Ada hat alle seine Kinder gegen Polio impfen lassen. Wer sie verhexen will, muss sich etwas anderes einfallen lassen.