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Hit, rape and run – oder: was Afghanistan und der Kongo gemein haben

 

Was tut eine Rebellengruppe, deren Nachschublinien gestört werden und deren Kampftrupps militärisch unter Druck geraten? Sie eskaliert den Terror gegen die Zivilbevölkerung. Hit, rape and run – so kann man die Strategie der FDLR im Ostkongo bezeichnen. Zuschlagen, vergewaltigen und wieder abtauchen.

Anfang August haben die Kämpfer der aus Ruanda stammenden Hutu-Miliz  zusammen mit einer lokalen Mayi-Mayi-Miliz die Kleinstadt Luvungi und mehrere umliegende Dörfer in der Provinz Nord-Kivu besetzt und geplündert.  Über 170 Frauen sowie offenbar auch mehrere Jungen im Kleinkindalter sind vergewaltigt worden – meist durch Gruppen von bis zu sechs Bewaffneten, oft vor den Augen der gesamten Familie.

Ähnlich wie im Fall eines Massakers einer anderen Rebellengruppe im Nordosten des Kongo mit mehreren hundert Toten im Frühjahr haben Berichte über das Verbrechen erst drei Wochen später die Öffentlichkeit erreicht. Warum, ist nicht klar. Die vorliegenden Informationen beruhen vor allem auf den Recherchen kongolesischer Ärzte sowie Mitarbeitern von International Medical Corps (IMC), einer amerikanischen Hilfsorganisation.

Über das Verhalten von Blauhelmen eines nahe gelegenen UN-Stützpunkts gibt es widersprüchliche Angaben. Ein Sprecher der UN-Mission erklärte, die FDLR-Kämpfer hätten die Straßen blockiert und so verhindert, dass die Bewohner die UN alarmierten. Nach Aussagen von Bewohnern wiederum waren mehrere Dutzend UN-Soldaten im Einsatz, bekamen die Angreifer aber nie zu fassen: „Sobald die Blauhelme ein Dorf erreichten, zogen sich die Rebellen in den Wald zurück.“ Zogen erstere wieder ab, seien die Marodeure zurückgekommen.

Warum die Blauhelme keine Verstärkung erhielten, ist eine der Fragen, welche die UN nun beantworten muss. Im Auftrag von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sind der stellvertretende Leiter für UN-Friedenseinsätze und die UN-Sondergesandte für sexuelle Gewalt in Konfliktgebieten auf dem Weg in den Kongo.

Schon seit Monaten demonstriert die FDLR mit gezielten Überfällen und Anschlägen in den beiden Kivu-Provinzen, dass sie sich reorganisiert hat. Die Miliz ist die Resterampe jener Hutu-Militärs und Milizen, die 1994 den Völkermord in Ruanda organisierten und danach in den Ostkongo flohen. Ihre Fußtruppen bestehen mittlerweile aus  Jungmännern, die in den kongolesischen Flüchtlingslagern aufgewachsen sind, aber auch aus Kongolesen, die mit mehr oder weniger Zwang rekrutiert worden sind.

Seitdem Anfang 2009 die kongolesische Armee mit Unterstützung Ruandas und der UN gegen die FDLR in den Kivu-Provinzen vorgeht (und dabei ihrerseits massive Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung verübt), hat die Hutu-Miliz zahlreiche Kämpfer und die Kontrolle über einige Gebiete verloren. Inzwischen macht sie diese Verluste durch Allianzen mit anderen Milizen wett, vor allem mit verschiedenen Mayi-Mayi Gruppen.

Es waren offenbar FDLR-nahe Mayi Mayi Kämpfer, die vor wenigen Tagen drei indische Blauhelmsoldaten mit Macheten zu Tode gehackt haben. Die Inder hatten mitten in der Nacht Hilferufe vor den Toren ihres Stützpunkts gehört, waren ausgerückt und dann von mehreren Dutzend Kämpfern attackiert worden. Solche gezielten Attentate direkt an UN-Stützpunkten hat es bislang nicht gegeben.

Die UN-Mission im Kongo steckt längst in einem ähnlichen Dilemma wie die NATO-Truppen in Afghanistan (mit dem Unterschied, dass letztere um ein Vielfaches zahlreicher und besser ausgestattet sind): Sie kooperieren im Kampf gegen die FDLR mit einer Regierung und einer Armee, von denen sie nicht wissen, ob sie gerade Freund oder Feind sind; sie stoßen auf wachsende (und völlig verständliche) Ressentiments seitens der Bevölkerung, deren Schutz sie allenfalls punktuell garantieren können. Und sie haben es mit einem Gegner zu tun, der auf jeden militärischen Druck mit Gräueltaten gegen Zivilisten reagiert – und nun womöglich auch mit gezielten Attentaten auf UN-Soldaten.

Wie brutal effektiv Gewalt gegen Frauen in dieser Strategie funktioniert, wissen die FDLR-Kämpfer genau. Sie haben in Luvungi mit ihren öffentlichen Massenvergewaltigungen über 170 Menschen vor den Augen anderer gefoltert und das soziale Gefüge eine ganzen Gemeinschaft erschüttert, wenn nicht zerstört. Ohne einen Schuss abzugeben. Das kann man über den Terror an den BewohnerInnen hinaus auch als Nachricht an die internationale Öffentlichkeit verstehen, die sich im Kongo eher mit emotionalem Gestus, denn mit einer durchdachten Strategie den Kampf gegen sexuelle Gewalt auf die Fahnen geschrieben hat: ‚Seht her, wir schlagen jederzeit zu, egal was Ihr tut.’

Das Schlimme ist: in Afghanistan wie im Ost-Kongo würden viele Zivilisten lieber wieder unter der brutalen aber berechenbaren Herrschaft ihrer Peiniger leben als in diesem latenten oder offenen Kriegszustand. Sie ziehen die FDLR als Besatzungsmacht, was sie in Teilen der Kivus lange Zeit war, der permanenten Angst vor dem Terror vor.

Wobei die kongolesische Zivilbevölkerung weiter nördlich, in der Provinz Orientale unter einer noch viel schlimmeren Geißel zu leiden hat: Die aus Uganda eingesickerten Rebellen der „Lord’s Resistance Army“ (LRA) führen seit Monaten eine Terrorkampagne im Dreiländereck Sudan, Kongo und Zentralafrikanische Republik durch, entführen Kinder und Jugendliche, plündern die ohnehin ärmlichen Erntevorräte, „bestrafen“ Dorfbewohner für Kontakte mit UN-Soldaten oder Armee, indem sie ihnen Lippen und Ohren abschneiden.

Die LRA wie die FDLR sind, wohlgemerkt, längst nicht mehr so schlagkräftig und mächtig wie früher. Aber ihre Überlebensfähigkeit durch schieren Terror demonstriert eines: Zu glauben, man könnte sie mit einer militärischen „grand strategy“ ausschalten, ist ein für die Zivilbevölkerung verheerender Irrtum.

Es gibt in solchen Fällen keine „grand strategy“ – schon gar nicht im Kongo mit dieser Regierung und dieser Armee. Es gibt allenfalls eine für jede Provinz, jeden Bezirk anders aussehende Kombination aus Verhandlungen, Angeboten an Aussteiger, Frühwarnsystemen für gefährdete Dörfer, punktuellen Teufelspakten mit Milizen, um andere Milizen auszuschalten und mit gezielten Militärschlägen als letztem Mittel. Außerdem mit Hilfsgeldern nicht nur für Frauenprojekte, sondern auch für Straßen, damit entlegene Regionen erreichbar werden. Und für Gefängnisse, damit man festgenommene Täter überhaupt einsperren kann.

Was braucht es noch? Einen verdammt langen Atem und massiven Druck auf die Regierung in Kinshasa. Deren Desinteresse an der körperlichen Unversehrtheit ihrer BürgerInnen und an einer nachhaltigen Reform der eigenen Armee ist skandalös. Ebenso ihre wiederholte Forderung nach einem baldigen Abzug der UN-Truppen. Denen kann man nach wie vor alle möglichen Versäumnisse und Fehlentscheidungen vorwerfen. Aber sie haben in den vergangenen Jahren – das konstatieren auch Hilfsorganisationen – trotz viel zu kleiner Truppenstärke einiges dazu gelernt, wenn es um den Schutz der Bevölkerung vor der eigenen Armee oder Rebellen geht. Und bei allen Ausbrüchen der Wut und Verzweiflung über die UN, die ich in den Kivu-Provinzen von KongolesInnen zu hören bekommen habe – auf die Frage, ob die UN abziehen sollte, habe ich noch nie ein „Ja“ vernommen. Sondern in aller Regel ein erschrockenes: „Um Gottes Willen, nein. Dann wird es wieder so schlimm wie früher.“