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Von Nairobi nach Den Haag – Kenia und der ICC

 

Der Sohn des Staatsgründers, die rechte Hand des Präsidenten, der engste Vertrauter des Premierministers –  es sind die Mächtigen in der zweiten Reihe, die der Internationale Strafgerichtshof gestern als Hauptverdächtige in seinen Kenia-Ermittlungen benannt hat. Seitdem bebt die politische Bühne in Nairobi, die Polizei ist in Alarmbereitschaft – und auch in den Nachbarländern ist der Gerichtshof wieder einmal in aller Munde.

Insgesamt sechs Tatverdächtige hat Chefankläger Luis Moreno-Ocampo am Mittwoch benannt, die zum Jahreswechsel 2007/2008 nach den Präsidentschafts-und Parlamentswahlen eine Welle der ethnischen Gewalt in Kenia orchestriert haben sollen. Die herrschende „Partei der Nationalen Einheit“ (PNU) um Präsident Mwai Kibaki hatte eine offensichtliche Niederlage durch dreiste Fälschung „korrigiert“. Die Proteste seitens der damals oppositionellen „Orangenen Demokratischen Bewegung“ (ODM) eskalierten in Pogrome und Vertreibungen. 1200 Menschen wurden getötet, 350.000 vertrieben. Nach zähen Verhandlungen schubste damals Vermittler Kofi Annan die verfeindeten Parteien in eine Koalitionsregierung – mit der Maßgabe, die Verantwortlichen für Massaker und Vertreibungen zur Verantwortung zu ziehen. Weil das bis heute nicht geschehen ist, wurde der ICC aktiv.

Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollen sich nun unter anderem Kibakis potenzieller Nachfolger, der Finanzminister Uhuru Kenyatta, Bildungsminister William Ruto, Präsidentenberater Francis Mathaura und Henry Kosgey verantworten, derzeit Industrieminister und Vertrauter des ODM-Chefs und Premiers Raila Odinga.

Kenias politische Elite wird also ordentlich durchgeschüttelt. Gerade erst hatte die kenianische Presse teils entsetzt, teils genüsslich die Wikileaks-Depeschen durchforstet, in denen der US-Botschafter das Land als „blühenden Sumpf der Korruption“ beschrieben hat. Was eine durchaus zutreffende Analyse ist. (Wer sich in dieses Thema vertiefen möchte, dem sei das Buch „Jetzt sind wir dran: Korruption in Kenia. Die Geschichte des John Githongo“ der britischen Journalistin Michela Wrong empfohlen)

Und nun die Vorladungen aus Den Haag. Ruto, ODM-Mitglied und einer der mächtigsten und berüchtigsten Politiker im Land, war schon von der kenianischen Menschenrechtskommission beschuldigt worden, zur Jagd auf Angehörige der Kikuyu geblasen zu haben, deren politisches Sammelbecken die PNU ist. Mathaura soll für einen „shoot-to-kill“-Befehl an die Polizei mitverantwortlich sein, dem vor allem der Angehörige der ethnischen Gruppe der Luo zum Opfer fielen. Die organisieren sich hauptsächlich in der ODM. Kenyatta wird vorgeworfen, eine hochkriminelle Sekte aus einem Kikuyu-Slum in Nairobi zur Hatz auf den politischen und ethnischen Gegner mobilisiert zu haben.

Schon wieder Afrika, werden die Kritiker des ICC einwenden. Dank eines Afrikaners, könnte man entgegen. Es gehörte 2008 zu Kofi Annans Verhandlungsstrategie, den verbohrten Kontrahenten mit dem Internationalen Strafgerichthof zu drohen. Annans Vorgehen fand damals den großen Beifall kenianischer Menschenrechtsorganisationen. ‚Wenn Ihr Euch nicht politisch zusammenrauft und die begangenen Verbrechen ahndet’, so seine Botschaft, ‚dann landen einige von Euch in Den Haag.‘

Das ist eine riskante Strategie. Denn was passiert, wenn die Drohkulisse des ICC in sich zusammenfällt? Wenn das Gericht nicht die Ressourcen hat, den politische Warnungen auch juristische Ermittlungen folgen zu lassen? Oder wenn es feststellen muss, dass in einem bestimmten Land zwar schwere Verbrechen begangen wurde, aber nicht schwer und systematisch genug, um unter das Statut des ICC zu fallen?

Im Fall Kenia hatte die dreiköpfige Vorverfahrenskammer im März 2010 dem Antrag des Chefanklägers auf Eröffnung einer offiziellen Ermittlung zugestimmt und damit die Zuständigkeit des ICC bejaht.
Allerdings bei einer Gegenstimme. Der deutsche Richter Hans-Peter Kaul, zugleich Vize-Präsident des ICC, befand in seinem Minderheitsvotum, dass die Gewalt – so verheerend sie war –  nicht in Folge oder Ausführung der „Politik eines Staates oder einer Organisation“ verübt worden ist. Dieses Tatmerkmal aber muss vorliegen, um nach den Statuten des ICC den Tatbestand von Verbrechen gegen die Menschlichkeit festzustellen.

Man kann tatsächlich darüber streiten, ob es sich bei den Unruhen in Kenia 2008 um eine geplante Politik der Regierung und der Opposition gehandelt hat – oder um den kriminellen, skrupellosen Machtanspruch einzelner Politikercliquen. Auch der darf natürlich nicht straffrei bleiben. Aber wenn sich der Gerichtshof auf solche Fälle einlässt, läuft er Gefahr, sich für tödliche Unruhen aller Art zuständig zu erklären.

Das Büro des Chefanklägers hat derzeit unter anderem den Fall Guinea unter Beobachtung, wo Militärs im September 2009 bei einer friedlichen Demonstration der Opposition über 150 Menschen erschossen und hunderte von Frauen vergewaltigt hatten.

Und gerade erst hat die Anklagebehörde eine Warnung an die politischen Kontrahenten in der Elfenbeinküste herausgegeben, ihre Anhänger unter Kontrolle zu halten und sämtliche Gewaltakte zu ahnden. Gut gemeint – aber womöglich überschätzt die Haager Behörde da ihre abschreckende Wirkung gewaltig.

Was Kenia angeht, so hat sich der ICC nun auch mitten in die kenianische Politik katapultiert. Die nächsten Wahlen sind für 2012 angesetzt. Genau dann soll ein Teil von Kenias politischer Elite in Den Haag auf der Anklagebank sitzen.