„Al-Shabaab!“ Der Ausruf dieses Namens löst in Ostafrika inzwischen ähnliche Reaktionen aus wie der Name „al-Qaida“ in den USA oder Europa: Terroristen und Islamisten, so der Pawlowsche Reflex, kann man nur mit militärischen Mitteln bekämpfen. Während die USA und ihre Alliierten sich im Irak und Afghanistan langsam selbst abwickeln und in den westlichen Medien das gefühlte Ende des war on terror verkündet wird, ist in Ostafrika der nächste Krieg ausgebrochen. Seit Mitte Oktober befinden sich kenianische Truppen auf somalischem Boden, bombardiert die kenianische Luftwaffe Städte in Südsomalia, um al-Shabaab endgültig den Garaus zu machen. Linda Nchi heißt die Operation. Auf Deutsch: „Verteidigt die Nation.“
Die islamistische al-Shabaab, nach eigenem Bekunden mit al-Qaida alliiert, kontrolliert weite Teile des Südens von Somalia und hat nach Überzeugung der Regierung in Nairobi zuletzt auch mehrfach auf kenianischem Boden zugeschlagen: Im September hatten bewaffnete Somalis ein kenianisches Hotel nahe der Grenze überfallen, eine britische Touristin entführt und deren Mann getötet. Mitte Oktober wurden in unmittelbarer Nähe des Flüchtlingslagers Dadaab zwei spanische Mitarbeiterinnen der Hilfsorganisation Médecins sans Frontières verschleppt. Kurz darauf entführten Somalis eine Französin aus einem kenianischen Urlaubsort. Von der britischen Geisel fehlt bislang jede Spur, die Französin starb, weil schwerkrank und ohne Medikamente, nach wenigen Tagen in der Hand ihrer Geiselnehmer. Über das Schicksal der MSF-Mitarbeiter ist nichts bekannt.
Seit dem Beginn von Operation Linda Nchi dominiert nun Frontberichterstattung die kenianischen Tageszeitungen, während die Invasion in den USA und Europa mit frappierender Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen wird. Die Obama-Regierung versichert, vom kenianischen Einmarsch in das Nachbarland nicht informiert worden zu sein – geschweige denn, ihn gebilligt zu haben. Zumindest ersteres erscheint unwahrscheinlich. Dann behauptete Kenias Regierung, die französische Marine habe freundlicherweise Al-Shabaab-Stellungen von der Küste aus beschossen. Paris dementierte prompt, gab aber gleichzeitig bekannt, dass man dem kenianischen Militär logistische Hilfe leisten wolle. Unklar bleibt bis auf Weiteres, aus welchem Land die Tiefflieger stammen, die nach Presseberichten wenige Tage nach Beginn der kenianischen Invasion Al-Shabaab-Stellungen mit Lenkwaffen angegriffen haben. Waffen, mit deren Umgang kenianische Piloten gänzlich unvertraut sind.
Klar ist nur so viel: Wer inmitten einer der größten Dürre-und Hunger-Katastrophen einen Krieg anfängt, der pfeift auf das Leben somalischer Zivilisten. Die Hungersnot am Horn von Afrika ist zwar schon wieder aus den internationalen Schlagzeilen verschwunden, deswegen aber mitnichten zu Ende. Es sind immer noch mehrere Millionen Menschen ohne ausreichende Nahrungsmittelversorgung. In einigen der betroffenen Regionen hat es inzwischen geregnet. Um nicht den nächsten Ernteausfall zu riskieren, müssten die Bauern jetzt aussäen, also aus den Flüchtlingscamps in ihre Dörfer zurückkehren. Stattdessen aber begeben sich aufgrund der Bombardements noch mehr Menschen auf die Flucht.
Sicher ist auch: Wer in einem bitterarmen kriegszerstörten Hohlraum von Staat glaubt, eine fanatisch religiöse Miliz mit militärischen Mitteln beseitigen zu können, der hat offenbar nichts, absolut nichts, aus dem Debakel in Afghanistan gelernt. Oder aus dem Jahr 2006, als die äthiopische Armee mit amerikanischer Unterstützung bis Mogadischu marschierte, nur um sich selbst einen demütigenden Rückzug einzuhandeln und die Schlimmsten unter den islamistischen Milizen in Somalia gestärkt zurückzulassen. All das auf Kosten des Lebens Tausender Zivilisten.
Bleibt die Frage, warum Kenia ausgerechnet jetzt zum Militärschlag ausholt. Al-Shabaab schwächelte in den vergangenen Monaten, weil ihre Milizenführer (übrigens ein durchaus heterogener Haufen) bei der Bevölkerung ihren ohnehin geringen Kredit fast völlig verspielt hatten. Verschiedene Fraktionen gerieten in Streit über die Blockade westlicher Hilfe. Einige zeigten Verhandlungsbereitschaft. Die Invasion einer ausländischen Armee dürfte sie wieder zusammengeschweißt haben und könnte auch ihre Stellung in der Bevölkerung wieder stärken.
Kenia hat sich also womöglich sein eigenes „Afghanistan“ eingebrockt. Dabei, so räumt die Regierung in Nairobi freimütig ein, sei es ihr gar nicht so sehr um die jüngsten Entführungen gegangen (die vermutlich auf das Konto von Banditen, nicht von al-Shabaab gehen). Eine Militäraktion sei schon länger geplant gewesen, erklärte Regierungssprecher Alfred Mutua vergangene Woche. Man darf spekulieren, warum: Purer innenpolitischer Machismo reicht als Motiv wohl nicht aus, zumal Kenias Tourismusunternehmer alles andere als begeistert sind von Operation Linda Nchi. Schließlich hat al-Shabaab umgehend Terroranschläge auf kenianischem Territorium angekündigt. In Nairobi gab es bereits zwei Attentate mit Handgranaten auf eine Diskothek und eine Busstation.
Plausibler erscheint, dass Kenia ein lang gehegtes Ziel umsetzen möchte: Die Errichtung einer semi-autonomen Region als Pufferzone auf somalischem Gebiet, um, erstens, al-Shabaab und andere Milizen weiter von der Grenze abzudrängen, und zweitens einen Teil der somalischen Flüchtlinge in den Camps von Dadaab zurück auf die somalische Seite der Grenze zu drängen. Für die Flüchtlinge wäre das der nächste Alptraum. Davon haben sie in ihrem Leben eigentlich genug gehabt. Spätestens an dieser Stelle muss man fragen, warum das weder einer westlichen Regierung noch dem UN-Sicherheitsrat auch nur ein Räuspern wert ist.