Es ist ein Schlag ins Gesicht – fragt sich nur, wen er am härtesten trifft.
Am Montag hat die erste Kammer des internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (IStGh) das Verfahren gegen den ehemaligen kongolesischen Kriegsherren Thomas Lubanga ausgesetzt. Die Begründung: Die Anklage habe der Verteidigung zahlreiche Dokumente mit zum Teil entlastendem Material vorenthalten. „Wenn schon zu Beginn klar ist, dass grundlegende Voraussetzungen für einen fairen Prozess fehlen“, so die Richter in ihrer Begründung, „ist es unabdingbar, das Verfahren auszusetzen.“ Eigentlich hätte der Prozess gegen Lubanga, der wegen Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten in Ituri im Ost-Kongo angeklagt ist, am 23. Juni beginnen sollen. Nun aber will die Kammer nächste Woche darüber entscheiden, ob Thomas Lubanga auf freien Fuss gesetzt wird. Für die internationale Reputation des Gerichtshofs wäre dies verheerend.
Aber was genau ist eigentlich passiert? Haben die Ankläger unter Leitung des Argentiniers Luis Moreno- Ocampo wirklich mit unsauberen Tricks gearbeitet? Ist der erste Prozess des Internationalen Strafgerichtshofs damit bereits gescheitert? Und was heisst das für die Zukunft des Völkerstrafrechts?
Ankläger internationaler Strafgerichte stehen zweifellos unter größerem Druck als Richter und Verteidiger. In den Augen der Weltöffentlichkeit sind sie die Rächer von Verbrechen, die die internationale Staatengemeinschaft nicht verhindern konnte oder wollte: Völkermord, Massaker, Massenvergewaltigungen, Rekrutierung von Kindersoldaten, ethnische Vertreibungen. Ob Slobodan Milosevic, Charles Taylor oder Thomas Lubanga – in den internationalen Medien, in den Berichten von Menschenrechtsorganisationen und UN-Kommissionen stehen diese Angeklagten längst als Kriegsverbrecher fest. Für eine juristische Bewertung ihrer Schuld gelten aber nun mal andere kompliziertere Kriterien. Auch für die Schlimmsten der „bad guys“ gilt der Grundsatz in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Das ist der internationalen Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln.
Tatsächlich gab und gibt es bei internationalen Strafgerichtshöfen einiges zu bemängeln an der „Waffengleichheit“ zwischen Anklage und Verteidigung. Ankläger und Verteidiger suchen jeweils nach belastenden und entlastenden Beweisen und „fechten“ die Frage von Schuld oder Unschuld vor den Richtern aus. Bloß sind letztere meist deutlich schlechter ausgestattet. Beim UN-Jugoslawien-Tribunal wurden sie in den ersten Jahren recht stiefmütterlich behandelt, mussten um Ressourcen und Räume kämpfen. Im Verfahren gegen den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor monierte die Strafkammer des zuständigen internationalen Sondertribunals, dass dessen Anwälte bei der Ermittlungsarbeit gegenüber den Anklägern benachteiligt worden seien. Und nun also der Paukenschlag im Fall Lubanga.
Allerdings geht es hier noch um ein anderes Problem: Bei den Dokumenten, die die Ankläger des IStGh partout nicht herausrücken wollen, handelt es sich um Beweismaterial, dass ihnen von Angehörigen der UN-Mission im Kongo unter der Zusicherung absoluter Vertraulichkeit gegeben worden ist. Würden diese Unterlagen an die Verteidigung und damit auch an den Angeklagten weitergegeben, so die Befürchtung, könnte dieser die Identität der Informanten herausfinden. Und das könnte für die Betreffenden – vor allem für Zeugen aus der Zivilbevölkerung – gefährlich werden. Denn der Gerichtshof hat wie auch die anderen internationalen Tribunal keine eigene Polizei. Seine Möglichkeiten, Zeugen zu schützen, sind minimal.
Der Beschluss der ersten Kammer des IStGh vom vergangenen Montag verdeutlicht also eines der zentralen Probleme des Völkerstrafrechts. Der Strafgerichtshof ermittelt derzeit in Darfur, im Kongo, in Uganda und in der Zentralafrikanischen Republik. In Darfur herrscht Krieg, die anderen drei Länder befinden sich irgendwo zwischen Krieg und Frieden. Ermittler des Gerichtshofes können nur unter extrem schweren Bedingungen und größtem Risiko vor Ort arbeiten. Ohne die Zuarbeit von lokalen Menschenrechtsgruppen oder den jeweiligen UN-Missionen wäre wohl keine einzige Ermittlungsakte eröffnet worden.
Die Gründer des IStGh haben ja vorausgesehen, dass das Gericht im wahrsten Sinne des Wortes mitten ins Scharmützel geraten würde. Dass seine Ermittlungen nicht nur den Tatverdächtige überführen, sondern auch jenen Menschen gefährlich werden können, die es wagen, die Verbrechen zu bezeugen. Das Römische Statut, die Gründungsakte des Gerichts, erlaubt den Anklägern, in bestimmten Fällen Beweismaterial unter Verschluss zu halten, um die Quellen zu schützen. Im Fall Lubanga, so die Richter der ersten Kammer, habe die Anklage dieses Recht allerdings missbraucht.
Ist der Prozess gegen Thomas Lubanga also noch zu retten? Vielleicht. Denn die Richter haben der Anklage einen Vorschlag zur Güte gemacht. Sie wollen Einsicht in die Dokumente bekommen und dann selbst entscheiden, welche entlastenden Charakter haben und der Verteidigung zugänglich gemacht werden müssen. Jetzt muss das Büro des Chefanklägers Moreno-Ocampo die Informanten überreden, auf ihre Anonymität zu verzichten. Klappt das nicht, ist das erste Verfahren des IStGh zu Ende, bevor es richtig begonnen hat.
In Ituri, wo Lubangas Hema-Truppen im Krieg gegen Milizen der Lendu den Tod von 60.000 Menschen mitverschuldet haben, versteht man ohnehin nicht mehr, was da im fernen Europa vor sich geht. In den von Hema bewohnten Vierteln der Bezirkshauptstadt Bunia feiern Lubangas Anhänger, als wäre die Entscheidung der Den Haager Kammer ein Freispruch. In den Nachbarschaft der Lendu hingegen fühlen sich die Leute um die Rache am Erzfeind betrogen. Seit über zwei Jahren sitzt Lubanga in Den Haag in Untersuchungshaft, seit über zwei Jahren warten sie auf die Eröffnung des Prozesses. Und jetzt das. Gut möglich, dass die Entscheidung der Richter vom vergangenen Montag auf lange Sicht die Prozessführung des IStGh gestärkt hat. In Bunia aber hat das Weltgericht jede Glaubwürdigkeit verspielt.