Donnerstag gegen 16:30 Uhr, Rush Hour auf dem Boulevard des 30. Juni. Die Blechlawine rührt sich nicht vom Fleck. Ein Konvoi schwarzer Geländewagen mit verdunkelten Fensterscheiben ist auf einer Kreuzung eingekeilt. Nichts geht mehr, daran ändern auch die Kalaschnikows und die grimmigen Gesichter der Polizeieskorte nichts. Der Gouverneur von Kinshasa (die Hauptstadt hat den Status einer Provinz), André Kimbuta Yango, hat sich auf die Straße begeben. „Un grand voleur, un très grand voleur, ein Dieb, ein ganz großer Dieb“, sagt Monsieur Vicky, mein Fahrer, und wischt sich den Schweiß ab. Auch wir stehen im Stau, nur ohne Klimaanlage im Gegensatz zum Gouverneur. Dem rückt nun sein Volk näher auf den Leib, als ihm lieb sein kann. Dutzende Händler, Bettler und Straßenkinder stürzen auf sein Auto zu, klatschen gegen die dunklen Scheiben. „Hey Exzellenz, mach’ das Fenster auf, wirf’ ein bisschen Geld heraus. Komm schon, Papa, Du bist mächtig, Du bist stark, Du bist reich.“ Die Rufe klingen nicht schmeichelnd, auch nicht bittend, sondern fordernd. Eigentlich sagen sie: „Hey Gouverneur, Du stopfst Dir den ganzen Tag die Taschen voll, während wir hier für ein paar Franc in der Hitze schuften. Also gib uns wenigstens ein paar Krümel ab.“ Die Wagenfenster bleiben zu.
Seine Exzellenz weiß um ihren Ruf in der Stadt. Erstens wurde Kimbuta von Präsident Joseph Kabila ernannt, der in Kinshasa nach wie vor unbeliebt ist. Zweitens geriet er vergangenes Jahr in die Schlagzeilen, weil er in den Mord am Vizepräsidenten des Provinzparlaments verwickelt gewesen sein soll, was viele Kinois auch dann glauben, wenn es keine Beweise dafür gibt. Das Opfer gehörte zur Partei von Kabilas großem Widersacher Jean-Paul Bemba, derzeit prominentester Untersuchungshäftling des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, in Kinshasa aber immer noch recht populär.
Der vorderste Wagen des Konvois lässt den Motor aufheulen, die Polizisten brüllen, die Bettler schreien, nichts bewegt sich. Merke: Verkehrsstaus in Kinshasa – und in den Stoßzeiten besteht die Stadt fast nur noch aus Verkehrsstaus – sind schlecht für Politiker. Sie sind hingegen gut für Polizisten, die Autofahrer schröpfen wollen. Sie sind gut für bettelnde Straßenkinder und fliegende Händler. Sich mit einer Bananenstaude und einem handgeschriebenem Preisschild direkt neben ein mit Brackwasser gefülltes Schlagloch zu setzen, an dem jeder Autoverkehr zum Erliegen kommt, freut die Moskitos und erhöht das Malaria-Risiko. Aber eben auch den Umsatz.
Abgesehen davon sind Verkehrsstaus für den Rest der Bevölkerung eine Katastrophe. Kinshasa hat heute acht Millionen Einwohner und kein öffentliches Nahverkehrssystem. Die meisten Menschen verbringen Stunden ihres täglichen Überlebenskampfes damit, von einem Ort zum anderen zu kommen. Sie warten im Gestank und Müll auf ein Sammeltaxi, dessen Platzeinweiser sie mit Dutzenden anderen Fahrgästen in einen verbeulten Lieferwagen pfercht und dessen Chauffeur über den genauen Zielort erst während der Fahrt über Kinshasas Schlaglochparcours entscheidet. Gnädigerweise haben die Besitzer solcher Fuhrunternehmen ein paar Atemlöcher in die Seitenwände schneiden lassen, damit ihnen bei 34 Grad und Schneckentempo keiner erstickt. Stellen Sie sich einfach vor, Sie säßen mit dreißig Leuten während eines mittleren Erdbebens in einer kleinen Heimsauna. Dann wissen Sie ungefähr, wie die Kinois Taxi fahren.
An der Kreuzung heulen wieder die Motoren der Gouverneurs-Kolonne auf. Sie drängt sich in eine kleine Lücke und entschwindet in einer Seitenstraße. Die Händler und Straßenkinder verteilen sich schimpfend auf die Autoschlangen des Boulevards, einer nach dem anderen zieht an meinem Fenster vorbei. Der erste balanciert einen Karton Eier auf dem Kopf. „Nein danke“, sage ich, obwohl man auf Vickys Motorhaube ein Omelett braten könnte. Sein Kollege hat Hundeleinen und Spielzeughandys im Angebot. „Wirklich nicht, ich habe weder Hund noch Kinder.“ „Wie wär’s mit einem Wagenheber?“ fragt er gleichmütig, hält mir das Gerät durch’s Fenster und zieht erfolglos weiter. Der nächste hält einfach nur die Hand herein, er hat nur eine, der linke Arm besteht aus einem kurzen Stumpf. Ein Straßenjunge, keine vierzehn Jahre alt. „Mama, ein paar Francs nur, ich habe Hunger. Ist ein harter Tag heute.“ Wenn ich jetzt Geldscheine herausrücke, habe ich binnen Sekunden die ganze Kinderbrigade an der Autotür – und keinen Fluchtweg. Wir stecken ja im Stau. Ich sage „nein“, sage es ziemlich unfreundlich, er sieht mich an, sieht auf meine Tasche, vielleicht bin ich ja die Gelegenheit des Tages für ihn, um etwas zu essen bekommen. „Na dann vielleicht beim nächsten Mal “, sagt er, grinst mich an und wünscht mir noch einen schönen Tag.