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Kagame, der Kongo und der Verdacht des Völkermords

 

545 Seiten, 1280 Zeugen, 1500 Dokumente, 600 Tatorte. Das sind die nüchternen Zahlen hinter einem Bericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte über Verbrechen während der beiden Kongo-Kriege zwischen 1996 und 2003. Es ist der erste umfassende, wenn auch keineswegs vollständige  Bericht über Gräueltaten während zweier Kriege, an deren Folgen – Massaker, Seuchen, Hunger –  bis heute mehrere Millionen Menschen gestorben sind. Und er enthält eine Bewertung, die das politische Gefüge in Zentralafrika schon jetzt erschüttert:  Nach Ansicht der Autoren könnten  – wohlgemerkt: könnten – die Verbrechen der ruandischen Armee Paul Kagames und der mit ihr alliierten kongolesischen Rebellen unter dem späteren kongolesischen Präsidenten Laurent Kabila den Tatbestand des Völkermords erfüllen. Offiziell soll der Bericht erst kommende Woche der Presse vorgestellt werden. Eine vorläufige Fassung wurde der französischen Tageszeitung Le Monde, zugespielt.

Es geht also um die Geschichtsschreibung des schlimmsten Krieges seit 1945 und um die Ereignisse in Ruanda und im Kongo in den späten 90er Jahren.
Im Sommer 1994 stoppen bekanntlich Tutsi-Rebellen unter dem Kommando des heutigen Präsidenten Paul Kagame den Völkermord in Ruanda, nachdem bereits 800.000 Tutsi und moderate Hutu Armee und Milizen zum Opfer gefallen sind. Die Täter fliehen mitsamt hunderttausender Hutu vor Kagames Rebellen in den Ost-Kongo, rüsten sich wieder auf und massakrieren grenzübergreifend weiter. 1996 löst  Kagame seinerseits die Flüchtingscamps militärisch auf und lässt seinen kongolesischen Frontmann Laurent Kabila innerhalb von sieben Monaten bis Kinshasa marschieren, wo dieser die Macht übernimmt, sich mit seinen ruandischen Sponsoren aber schnell überwirft. Diese marschieren erneut ein, was schließlich den zweiten Kongo-Krieg unter Beteiligung sämtlicher Nachbarländer zur Folge hat.

Dass alle Beteiligten dabei Kriegsverbrechen begangen haben, gilt heute als Binsenweisheit. Aber über die der ruandischen Seite wurde im Westen weitgehend geschwiegen. Weil die Weltgemeinschaft 1994 in Ruanda und dann bei der Flüchtlingskrise im Ostkongo versagt hatte, hatte Kagame – so zynisch es klingt – vor allem bei der amerikanischen und britischen Regierung ein paar Massaker gut. Jetzt konstatiert der Bericht „systematische und weit verbreitete Attacken gegen große Gruppen ruandischer Hutu-Flüchtlinge und Hutu-Zivilisten“, die, sollten sie vor einem ordentlichen Gericht verhandelt werden, als Völkermord klassifiziert werden könnten. Dazu zählten Massaker in der Art von Srebrenica, bei denen ausschließlich Männer exekutiert wurden, aber auch Massenmorde an Frauen, Kindern, Greisen, die als Hutu identifiziert wurden. Wie viele Opfer insgesamt? Das lässt sich kaum sagen. Zehntausende. Wahrscheinlich mehr als hunderttausend.

Unter anderem die inzwischen verstorbene Historikerin Alison des Forges, Autorin des Standardwerkes über den Genozid 1994 und Mitarbeiterin von Human Rights Watch, hatte mehrere Verbrechen von Kagames Truppen dokumentiert. Trotzdem konnte dieser letztlich durchsetzen, dass sich das UN-Ruanda-Tribunal nur mit dem Genozid des Hutu-Regimes befasst.

Denn ein unanfechtbares Täter-Opfer-Schema ist für Kagames Plan eines „neuen Ruanda“ ebenso unverzichtbar wie der wirtschaftliche Fortschritt, den er zweifellos erreicht hat (allerdings auch dank fortgesetzter Plünderung von Rohstoffvorkommen im Ost-Kongo).

Mit dem UN-Bericht ist dieser Nimbus wohl endgültig dahin. Dass der Report kommen würde, wusste Kagame seit langem. Nach Angaben von Le Monde hatte Kagame dem UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon gedroht, im Fall einer Veröffentlichung die ruandischen Truppen von der Blauhelm-Mission in Darfur abzuziehen oder sogar den Status als Mitgliedsland auf Eis zu legen. Vermutlich wollte der UN-Chef daraufhin zumindest den Völkermord-Verdacht streichen lassen, weswegen der Bericht dann prompt an die Presse gespielt wurde. Das spekuliert Jason Stearns, Afrika-Kenner und ehemaliger Ermittler einer der UN-Expertengruppen für den Kongo, der den bericht offenbar ebenfalls in seinen Händen hat.

Stearns weist übrigens auf ein wichtiges Detail hin: Die Autoren des Reports haben bei ihren Recherchen den „journalistischen Standard“ angewandt. Soll heißen: zwei unabhängige Quellen für jeden Tatbestand. Juristisch hat das noch keinen Bestand, solange die jeweiligen Zeugen die Aussage nicht persönlich und unwiderlegbar vor Gericht wiederholen.

Bleibt die Frage: welches Gericht wäre dafür zuständig? Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ist nur für Verbrechen zuständig, die nach dem Inkrafttreten seines Statuts am 1. Juli 2002 begangen wurden. Das UN-Ruanda-Tribunal befinedt sich ebenso wie das UN-Jugoslawien-Tribunal in der Schlusskurve. Die ruandische Justiz wird einen Teufel tun und gegen die Mächtigen im Land ermitteln. Gleiches gilt für die kongolesische. Der amtierende Präsident Joseph Kabila ist der Sohn eines Hauptbeschuldigten in dem UN-Bericht, Laurent Kabila.

Bliebe nur die Option eines neuen internationalen Kongo-Tribunals. Und das ist – milde ausgedrückt – unwahrscheinlich.