Die Gerüchteküche hat es ahnen lassen: schon am Vortag machen Textmessages die Runde, dass Ausschreitungen in Nakuru bevorstünden. Im „Bubbles“, einer der freundlicheren Kneipendiskos der Stadt, interessiert das am Donnerstag Abend noch niemanden. Das Fernsehen überträgt live vom Afrika-Cup in Ghana, das kleine Guinea schlägt das große Marokko. Darauf noch ein Bier.
Hier im Rift Valley hat es in den vergangenen Wochen die meisten Toten, die schlimmste Zerstörung gegeben, seit nach den Wahlen am 27. Dezember der Amtsinhaber Mwai Kibaki in einem ebenso dreisten wie stümperhaften Betrugsmanöver seinem Kontrahenten Raila Odinga den Wahlsieg weggeschnappt hat. Seitdem ist eine Vertreibungskampagne gegen Angehörige von Kibakis Ethnie, die Kikuyu, im Gang – angeheizt durch Wahlkampfreden der Opposition, angetrieben und ausgeführt vor allem von Angehörigen der Kalenjin, die im Rift Valley seit Jahrzehnten im Landstreit mit den Kikuyus liegen.
Aber in Nakuru fühlte man sich bis zum Donnerstag abend noch relativ sicher. Hier ist viel Polizei konzentriert, die Geschäfte und Märkte sind geöffnet, hier haben aus entlegeneren Dörfern und Städten vertriebene Kikuyus Zuflucht gefunden. Hier haben viele Hilfsorganisationen einen Stützpunkt aufgebaut.
Kurz nach Mitternacht hört man die ersten Schüsse – und mit der Sicherheit ist es vorbei. Bis zum Morgengrauen wiederholt sich dieses Spiel in unregelmäßigen Abständen: wütendes Gebrüll, Schüsse, Triumpfgeheul, dann wieder Stille. Selber auf der Straße nachzusehen, ist keine gute Idee. Also bleiben wir – ein kenianisch-deutsch-burundisches Team der GTZ, mein Fahrer Sammy und ich – auf dem Hotelgelände. Kurz nach Sonnenaufgang können wir die Bescherung mit eigenen Augen sehen: Mehrere Rauchsäulen im Umkreis von hundert Metern, Schüsse, die jetzt hörbar in unmittelbarer Nachbarschaft abgefeuert werden. „Bis vor unsere Tür sind sie gekommen“, berichten erregte Nachbarn. „Sie“ – das sind Trupps von jungen Kalenjin mit Pfeil und Bogen, großen Panga-Messern und Handys – die Standard-Ausrüstung in diesem kenianischen Nachwahl-Krieg. Wer die Gewehrschüsse abfeuert, bleibt unklar, von der Polizei ist nämlich erst einmal nichts zu sehen. Neue Rauchsäulen steigen auf, erst brennen Häuser, dann ein Löschwagen der Feuerwehr. Die ist immerhin gekommen.
Inzwischen versammeln sich auf der Straße immer mehr Kikuyu-Männer aufgetaucht – zum Teil aus den Flüchtlingslagern in der Stadt – in den Händen alles, womit ein Mensch zuschlagen kann: Zaunlatten, Wagenheber, Stemmeisen, Panga-Messer, Krückstöcke. Einige grüßen höflich-betreten, als wäre ihnen dieser Auftritt irgendwie peinlich. Dann schlendern sie auf die gegenüberliegende Straßenseite, schleppen Holzbretter, Ölfässer, Steine und einen halben Gaum auf die Straße. Ein paar Spritzer Benzin, ein Streichholz, fertig ist die brennende Barrikade. Weiter passiert zunächst gar nichts. Herumlungernde Schaulust macht sich breit. Das kennt man auch von Kreuzberger Demos.
Dann prescht ein Laster der Polizei heran. Auf der Ladefläche drängen sich Polizisten – einige in der auch aus Deutschland vertrauten Schutzausrüstung mit Brustpanzer, Helm und Schulterpolster, andere in Tarnanzügen und mit halbautomatischen Gewehren. Die feuern ihre ersten Salven in die Luft ab – und jetzt heisst es: rennen. Nur eine alte abgemagerte Frau bleibt einfach stehen, scheinbar ohne eine Spur von Panik, als ginge sie das alles nichts mehr an. Ein kleiner Kerl, der auf einem chinesischen Fahrrad das Weite suchen will, dreht um. Irgendwoher hat er plötzlich eine Decke, legt sie auf den Gepäckträger. Die Alte steigt seelenruhig auf, der Mann schiebt das Fahrrad aus der Gefahrenzone. Er ist einer der wenigen, die keine Waffe in der Hand halten. Schon allein dafür möchte man ihn küssen.
Dann wieder warten, telefonieren, Gerüchte austauschen. Die Hauptstraße sei in alle Richtungen blockiert. Mungiki-Mitglieder seien in der Stadt (das sind Angehörige einer kriminellen, religiös verbrämten Kikuyu-Gang, die sich nun als Schutzmacht ihrer Ethnie gerieren). Unser ursprünglicher Plan, Flüchtlingslager in der Umgebung zu besuchen, hat sich offenbar erledigt. Ebenso mein Vorhaben, von Nakuru weiter nach Norden in das schwer zerstörte Eldoret zu fahren.
Ein Geländewagen von „Medecins sans Frontieres“ rollt langsam Richtung Shabab und Kaptembe, den Vierteln, aus denen die meisten Rauchsäulen aufsteigen. Nach fünf Minuten kommt er wieder zurück. Kein Durchkommen. Dasselbe widerfährt einem Konvoi vom Kenianischen Roten Kreuz. Die ersten Flüchtlinge, Kikuyus aus den Randbezirken, kommen stadteinwärts, auf dem Rücken, auf Handkarren oder Autodächern zusammengeschnürt, was zu retten war. Bei manchen sind das Möbel, Matratzen, Töpfe, Fernseher und Computer, bei andern nicht mehr als ein Deckenbündel. Gleichzeitig schlendern immer mehr bewaffnete Kikuyus Richtung Shabab – gefolgt von Polizei und zwei Lastwagen mit Soldaten. Bislang hat die Regierung es tunlichst vermieden, die Armee einzusetzen – aus der durchaus begründeten Angst, auch das Militär könnte sich entlang ethnischer Linien spalten.
Dann ist es still in Shabab, die Brände sind offenbar gelöscht. Wir warten, telefonieren, horchen die Leute aus. Ein Lehrer, der sich extra seinen Sonntagsanzug angelegt hat, sucht in der Menge nach Zeugen der Polizeieinsätze. „Die Polizei ist gegen die Kikuyus. Ich will beim Polizeichef Beschwerde einlegen.“ Die Umstehenden winken verächtlich ab. Ihnen ist nicht nach Beschwerde zumute, sondern nach Rache. „Wir bringen jeden Kalenjin um, den wir sehen.“
Es ist inzwischen zehn Uhr morgens, nichts rührt sich. Ich beschließe, nach Nairobi zurückzufahren, um von dort vielleicht mit dem Flugzeug nach Eldoret zu kommen. Die Innenstadt ist ruhig, ein paar Barrikadenreste, Menschen stehen unschlüssig herum, LKW-Fahrer fluchen, weil sie seit Stunden festsitzen. „Das hat sich ja offenbar wieder beruhigt“, sage ich.
„Beruhigt?“ ruft Sammy. „Ich sage Dir, das wird noch schlimm hier. Ganz schlimm.“
Er behält recht. Am Abend meldet das Rote Kreuz mindestens ein Dutzend Tote, einige verbrannt, andere zu Tode gehackt. Plünderungen in der Stadt, Kirchen, die mit Flüchtlingen überfüllt sind, Mobs von Kalenjin und Kikuyus, die sich bekämpfen. Das GTZ-Team hat sich an den anderen Stadtrand in das nächste Hotel geflüchtet.
Wieder in Nairobi reicht mir der erste Zeitungsverkäufer die Ausgabe der „Daily Nation“ durchs Autofenster. Auf dem Titelblatt Raila Odinga und Mwai Kibaki, wie sich unter den strahlenden Augen von Vermittler Kofi Annan erstmals seit den Wahlen wieder die Hand geben. Beide lachen, als hätten sie einen alten Kumpel wiedergetroffen. Was ja auch stimmt. Sie kennen sich seit Jahrzehnten, waren einst politische Verbündete. „Endlich Hoffnung“, lautet die Schlagzeile. 160 Kilometer entfernt, in Nakuru, herrscht zu diesem Zeitpunkt schon Ausgangsperre.
Am Samstag Morgen kommt die Stadt einigermaßen zur Ruhe. Gemeldet werden vereinzelte Schießereien. Die Polizei liefert neun verkohlte Leichen im Leichenschauhaus ab. Gegen Mittag läßt sich Kofi Annan mit dem Hubschrauber ins Rift Valley bringen, spricht mit Flüchtlingen und fordert die Bestrafung der Täter und Anstifter.
Was in Nakuru passiert ist, weiß in zwischen das ganze Rift Valley. Weiter südlich, Richtung Nairobi, rücken nun Kikuyu-Mobs zu Strafaktionen gegen andere Ethnien aus. Ein Teufelskreis – und noch weiss niemand, wie man ihn durchbricht.