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Studieren, transatlantisch

Warum sieht sie uns nur nicht an? Dabei ist es für die 18 Studierenden, die im kaltweißen Seminarraum in Erfurt sitzen, wichtig, was ihnen die amerikanische Studentin zu sagen hat. Doch ihr Blick, eingefangen auf einer großen Videoprojektion an der Stirnseite des Raumes, geht ins Leere. Scheinbar. In Wahrheit erkennt sie jede Regung ihrer Kommilitonen. Doch hängt ihre Web-Kamera nicht direkt über dem Bildschirm, was ihrem Blick eine falsche Richtung zu geben scheint. Ohne diese kleinen Mangel wäre irritationsfrei möglich, was das transatlantische Seminar gegen alle anderen an der Universität Erfurt auszeichnet: gemeinsames Lernen über Kulturgrenzen und 5000 Kilometer hinweg.

Philip Müller, Verwaltungswissenschaftler (genauer: Visiting Professor for Public Policy) ist die treibende Kraft dahinter; gemeinsam mit seinem Kollegen Jeffrey McCausland von der Penn State University lehrt er hier Internationale Sicherheit am Beispiel amerikanischer Außenpolitik. Die Zuhörer: Politologen aus Amerika, angehende deutsche, afghanische, indische, mexikanische, kenianische Verwaltungsmanager und Diplomaten in Erfurt.

Transatlantisch nennen sie es. Was anmaßend klingt, bildet lediglich die Realität ab. Nachmittags um zwei versammeln sich die Studierenden des Aufbaustudiengangs Master of Public Policy in Erfurt, während ihre amerikanischen Kollegen morgens um acht in die Uni wanken. Gemeinsam lauschen sie dem Eingangsreferat von McCausland, um sich dann in kleinen Gruppen abzustimmen, wie sie in der sich anschließenden Diskussion auf dessen Thesen reagieren wollen.

Jede Gruppe ein transatlantisches Ereignis: Die erste der Studentenrunden leitet eine Amerikanerin. Schnell wird klar, dass die zwei Afghanen in Deutschland die stärkeren Argumente haben. Also werden sie den Aufschlag machen und gegen McCausland antreten. Später wird die Gruppe wieder zusammensitzen und via Skype, E-Mail, Google-Doc, Was-immer-die-Technik-hergibt debattieren, welcher Inhalt, welcher Wortlaut in dem gemeinsamen Paper stehen wird, das über ihren Teilnahmeerfolg am Seminar entscheiden soll.

Wichtig ist dabei nicht so sehr, was dort über den Irak oder Afghanistan gesagt wird. Die meisten Argumente sind schon vielfach ausgetauscht worden. Wichtig ist vielmehr, dass all diese Studierenden sich darauf vorbereiten, in den Verwaltungen ihrer Länder und in internationalen Organisationen die Qualität des Regierens zu verbessern. Weshalb ihr Erleben, dass Entfernung keine Kategorie mehr ist für gute oder schlechte Kommunikation, das Potenzial hat, später die Strukturen von staatlicher Macht zu verändern. Ebenso wie die Erfahrung, das kollaboratives Arbeiten mehr ist als das gemeinsame Füllen eines Online-Forums.

Mitarbeiter globaler Unternehmen mögen müde lächeln, weil doch jemand, der beispielsweise bei SAP in Walldorf arbeitet, schon lange seinen Chef in London oder Indien hat. Doch Staat funktioniert bislang anders. Immerhin: Erfurt lässt hoffen, dass auch er bald in der Zukunft ankommt.