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Im Frieden geboren, vom Krieg belastet

 

Die 19jährige Studentin Lea Ciric in Sarajevo@Ulrich Ladurner
Die 19jährige Studentin Lea Ciric in Sarajevo@Ulrich Ladurner

Lea Ciric ist drei Tage nach der Unterzeichnung des Vertrages von Dayton geboren, rein kalendarisch betrachtet ist sie ein Kind des Friedens. Denn mit Unterzeichnung des Friedensabkommens im amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Wright Patterson bei Dayton, Ohio, fand am 12. November 1995 der Krieg eine Ende, der dreieinhalb Jahre lang in Bosnien-Herzegowina getobt hatte und 100.000 Menschenleben forderte. Die 19-jährige Lea Ciric hat von dem Krieg selbst nichts mitbekommen, doch kennt sie die schrecklichen Geschichten aus dieser Zeit.

Ihre Eltern konnten ihr davon anschaulich erzählen, denn sie lebten während des Kriegs in der von Serben belagerten Hauptstadt Sarajevo. Es sind Geschichten über gnadenlose Scharfschützen, über Tod bringenden Granatbeschuss, Geschichten von beißendem Hunger und eisiger Kälte, Geschichten über die tiefe Verlassenheit einer Stadt, die unter den Augen der Welt 1425 Tage umzingelt war.

Lea Ciric weiß um all das, doch will sie es hinter sich lassen.

„Wir reden viel zu viel über den Krieg“, sagt sie, „immerzu ist dieses Thema präsent. Wie sollen wir da eine Zukunft haben?“

Dieser Tage etwa ist wieder der Name Nasser Orić in den Schlagzeilen.

Orić war während des Krieges Kommandeur der bosnischen Armee in Srebrenica, der Stadt, die von serbischen Milizen belagert und im Juli 1995 gestürmt wurde. Rund 8.000 Bosnier wurden daraufhin massakriert.

Orić soll während der Belagerung immer wieder umliegende serbische Dörfer angegriffen und Kriegsverbrechen begangen haben. Er ist vom Internationalen Jugoslawientribunal zunächst wegen Kriegsverbrechen verurteilt und später frei gesprochen worden. Jetzt ist er wieder in den Medien, weil er in der Schweiz aufgrund eines serbischen Haftbefehls verhaftet wurde. In der Fußgängerzone von Sarajevo hängen Flugzetteln und Plakate, die zu Solidaritätsdemonstrationen aufrufen.

„Unser Held Orić“ steht darauf zu lesen.

Für die Serben ist er ein Kriegsverbrecher.

Und so geht das die ganze Zeit.

Es ist Lea Ciric einfach zu viel. Die Psychologiestudentin will das nicht als Respektlosigkeit gegenüber den Opfern verstanden wissen und auch nicht als Aufruf, einfach alles zu vergessen, sondern als den dringenden Wunsch einer jungen Frau, nach vorne blicken zu dürfen.

Ciric fühlt sich wie eine Gefangene einer Geschichte, die ihr keine Möglichkeit auf einen Neuanfang bietet. Dabei ist sie erst 19.

„Ja, wir müssen uns erinnern. Alle sollen ihrer Opfer gedenken können, aber müssen es immer riesige Veranstaltungen sein? Kann man nicht stiller trauern? Reißt das nicht Wunden auch bei den Opfern auf, wenn alles wieder hochgekocht wird?“

In wenigen Wochen wird eine große Gedenkfeier an das Massaker von Srebrenica erinnern, das vor zwanzig Jahren stattfand.

Jetzt schon wirft der Jahrestag seine Schatten voraus. Es wird gestritten zwischen Serbien und Bosnien, denn Serbien will das Massaker nicht als Genozid anerkennen.

Wie will eine junge Frau wie Lea Ciric da einen Weg in die Zukunft finden? Und es ist ja nicht nur sie alleine, die so denkt.

Wahrscheinlich muss man die Tatsache, dass viele jungen Menschen Bosnien verlassen – meist sind es die besten –, nicht nur mit dem Mangel an wirtschaftlichen Perspektiven in dem Land in Verbindung sehen, sondern auch mit der erdrückenden Last dieser Geschichte. Es gibt keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Menschen Bosnien-Herzegowina den Rücken kehren. 60.000 allein im letzten Jahr, das ist eine Zahl, die man hört. Das Land blutet aus.

Ciric will in Bosnien bleiben, denn es ist ihre Heimat, das Land, das sie liebt. Aber die fortgesetzte Präsenz des Krieges raubt ihr manchmal die Luft zum Atmen.

Sie sitzt, während sie erzählt, in einem Café an der Katholischen Kathedrale von Sarajevo. Auf dem Platz steht ein großes Werbeschild für eine Dauerausstellung über das Massaker von Srebrenica.

Auf dem Asphalt des Platzes ist eine der vielen sogenannten Rosen von Sarajevo zu sehen, die Spuren einer Granatexplosion, die an die Form einer Blume erinnern. Der Krater ist mit rotem Harz ausgegossen, als Erinnerung an die Zeit der Belagerung, während der manchmal über 300 Granaten täglich auf die Stadt abgeschossen wurden.

Ciric ist nur wenige Hundert Meter von diesem Platz aufgewachsen, von diesen so sichtbaren Erinnerungen. Sie will im Frieden leben, doch der Krieg entlässt sie nicht.

Rosen von Sarajevo, @Ulrich Ladurner
Rosen von Sarajevo, @Ulrich Ladurner

 

Die traurige Geschichte von der bosnischen Milch

Vor knapp zwanzig Jahren ging der Krieg in Bosnien zu Ende. Seitdem bemüht sich das kleine Land um die Aufnahme in die Europäische Union. Die Gegenwart in Bosnien besteht aus dem Warten auf eine erträumte Zukunft, die nicht kommen will. Geschichten über das Leben im Warteraum

Ulrich Ladurner ist Politik-Redakteur der ZEIT und vom 16. Juni bis 16. Juli mit einem Stipendium des Goethe-Instituts in Bosnien Herzegowina.

Die skandalöse Geschichte mit der bosnischen Milch ist vielen Menschen geläufig, jedenfalls in Bosnien. Sie trug sich vor rund zwei Jahren zu und löste einigen Wirbel aus, der sich allerdings recht schnell wieder legte – wobei sich die Folgen dieser Geschichte bis heute mit voller Kraft entfalten. Aber Skandale werden vom schmerzgewohnten bosnischen Körper schweigend aufgesogen, und es ist dabei nicht sicher, ob diese zur Schau gestellte Leidensfähigkeit einer stoischen Lebenshaltung der Bosnier entspringt oder bereits Apathie in Reinform ist.

Bosnische Politiker müssen sich mit solchen Feinheiten nicht beschäftigten, es reicht ihnen zu wissen, dass irgendwo da draußen ein Volk ist, das sich nicht auflehnen wird, weil ihm auf seinem langen, mühevollen Marsch in eine bessere Zeit die Kraft, der Glaube und die Hoffnung verloren gegangen sind. Die Zukunft erscheint vielen in Bosnien wie eine Fata Morgana. Ein flimmerndes Etwas am Horizont.

Angesichts dieser allgemeinen Erschöpfung können es sich die Politiker leisten, just in dem Moment in eine Art Tiefschlaf zu fallen, da sie für ihr Land und ihr Volk wirklich etwas tun könnten.

Genau davon handelt die Geschichte mit der Milch.

„Wir haben jahrelang geschlafen“

Der Kern der Sache ist rasch erzählt. Milch ist eines der wichtigsten Exportgüter Bosniens. Der größte Abnehmer mit 80 Millionen Litern jährlich ist Kroatien. War Kroatien – muss man sagen. Denn 2013 wurde Kroatien Mitglied der EU, das bedeutet für die Milchimporte aus Bosnien, dass sie nun gewissen EU-Standards entsprechen müssen. Dabei handelt es sich um Hygienevorschriften und ähnliche Dinge, die in ihrer Komplexität überschaubar sind. Die bosnischen Behörden aber hatten es versäumt, die neuen Regeln durchzusetzen. Also brach nach 2013 der Milchexport nach Kroatien zusammen. 80 Millionen Liter Milch müssen die Bosnier nun entweder selbst trinken oder versuchen, sie in andere Länder wie etwa Albanien zu exportieren, zu häufig weit niedrigeren Preisen.

Wie war das überhaupt möglich?

Termin bei Mirko Šarović, Minister für Handel und Wirtschaft von Bosnien Herzegowina. Über den Mann muss man wissen, dass er einen sehr guten Ruf hat, also einer ist, wie es eine unparteiische aber durchaus kritische Expertin ausdrückt, der „wirklich was ändern will“. Er hat für seinen Reformeifer den Preis „Minister des Jahres“ gewonnen, der von einem Journalistenverband verliehen wird.

„Das mit der Milch, Herr Minister, wie konnte das passieren? Es war doch seit sieben, acht Jahren bekannt, dass Kroatien sehr wahrscheinlich 2013 Mitglied der EU werden würde?“

Šarović sagt trocken: „Wir haben jahrelang geschlafen!“

Es ist also vieles möglich in Bosnien.

Falls nun das Volk doch einmal wütend wird – wie im vergangenen Jahr, als völlig unerwartet ein Aufstand gegen Korruption und Misswirtschaft ausbrach, als die Straße kochte und Regierungsgebäude brannten –, dann leiten Politiker den überschäumenden Zorn des Volkes in das immer noch funktionsfähige ethnische Kanalisationssystem ab. In der dunkel-giftigen Brühe, die in diesem weit verzweigten Netz munter vor sich hin blubbert, ertrinkt dann der brennende Wunsch nach Gerechtigkeit.

 

Im Warteraum Europas

Vor knapp zwanzig Jahren ging der Krieg in Bosnien zu Ende. Seitdem bemüht sich das kleine Land um die Aufnahme in die Europäische Union. Die Gegenwart in Bosnien besteht aus dem Warten auf eine erträumte Zukunft, die nicht kommen will. Geschichten über das Leben im Warteraum.

Ulrich Ladurner ist Politik-Redakteur der ZEIT und vom 16. Juni bis 16. Juli mit einem Stipendium des Goethe-Instituts in Sarajevo.

Die Chinesen, sagt eine Bewohnerin Sarajevos, waren schon hier, aber sie sind wieder weg, weil in Bosnien keine Geschäfte zu machen sind – ausgerechnet die Chinesen, die doch sonst überall auf der Welt gute Geschäfte machen. Die Malaysier haben ein massives, festungsähnliches Hochhaus an der Ausfallstraße Richtung Flughafen gebaut, aber mehr als ein Drittel der Wohnungen ist nicht besetzt, sagt ein Bewohner der bosnischen Hauptstadt, und nicht weit davon entfernt haben Indonesier eine Moschee gebaut, die größte allerdings steht in Alipašino Polje, die König Fahd Moschee, gestiftet von den Saudis, was manche Menschen in Sarajevo beunruhigt, denn es fließt viel Geld aus den Golfstaaten nach Bosnien. Arabische Investoren haben riesige, luxuriöse Einkaufszentren gebaut, die in ihrer grellen Pracht nicht so recht zu den Nachrichten über Armut und Arbeitslosigkeit in der früheren jugoslawischen Republik passen wollen.

Am Ufer des gezähmten Flusses Miljacka steht ein würfelförmiges, in Glas gekleidetes Gebäude. Es ist die Vertretung der Europäischen Union. 160 Menschen arbeiten hier, und auf die Frage, warum es so viele brauche, sagt ein EU-Beamter, dass man in all den bosnischen Ministerien jemanden haben müsse, der den Ministern über die Schulter schaue und zur Not anschiebe, denn schließlich solle das Land ja irgendwann Mitglied der EU werden, eine andere Perspektive gebe es ja nicht für knapp 4,5 Millionen Bewohner. Und es gibt in der Tat sehr viele Minister. Die Rede ist von über 150.

Das ist wohl die höchste Ministerzahl in Relation zur Bevölkerung weltweit. Und natürlich hat dies seine Gründe.

Der Krieg in Bosnien wurde 1995 mit dem Vertrag von Dayton beendet. Er schuf ein stark föderalisiertes Land. Es gibt als größte Einheiten die Bosnisch-Herzegowinische Föderation, die serbische Teilrepublik Srpska und das Sonderverwaltungsgebiet Brčko – und nun ließe sich der kafkaeske Aufbau dieses Landes über sehr viele Zeilen beschreiben, doch der Leser würde sich darin schnell verlieren wie in einem Irrgarten. Errichtet wurde das Labyrinth jedenfalls, um einen Krieg zu beenden, nicht um eine Zukunft zu bauen. Der bosnische Staatsapparat ist so teuer wie kein anderer auf der Welt. Er verschlingt einen Großteil des Haushalts.

In den vergangenen 20 Jahren ist der Daytoner Irrgarten nicht abgebaut oder auch nur verringert worden. Wer nach der Zukunft des bosnischen Staates sucht, kann also immer noch im Handumdrehen orientierungslos werden, ja ihm droht sogar Schlimmeres, nämlich dass er verschlungen wird von diesem komplizierten Räderwerk, das hier überall am Werk ist und das einzige Ziel zu haben scheint, sich selbst am Leben zu erhalten, und das alles und jeden mit gnadenloser Geduld zermürbt, der der Verwirklichung seines Ziels entgegensteht.

Gut möglich, dass also irgendwann auch die 160 Beamten der EU deprimiert abziehen, klein gekocht in der Hölle der bosnischen Bürokratie, die freilich, das sollte nicht vergessen werden, diesem kleinen Land in Dayton von den westlichen Führungsmächten aufgedrückt wurde.

Noch ist es nicht so weit, und es soll auch nie so weit kommen, das wird einem in der Haus der EU-Delegation immer wieder versichert. Bosnien stehe wieder weit oben auf der To-do-Liste der EU. Man wolle es mit erneuerter Kraft noch einmal versuchen, das Land näher Richtung EU zu schieben.

Und woher dieser plötzliche Energieschub?

Was ist Bosnien aus der Sicht Brüssels im Vergleich zur Eurokrise?

Was ist Bosnien in den Augen der Geostrategen im Vergleich zu den Kriegen in Afghanistan, in Libyen, im Irak, in Syrien?

Ja, man hatte es irgendwie vergessen und verdrängt, dieses Land „da unten“.

Doch dann brach im Jahr 2014 ein sozialer Aufstand in Bosnien aus. Er richtete sich gegen die korrupte Elite des Landes. Er war kurz, heftig und gewalttätig. Das Aufstandsfeuer warf ein grelles Licht, das bis nach Brüssel leuchtete. Irgendwas, das begriff man jetzt, irgendwas läuft in Bosnien fürchterlich schief, irgendwas musste getan werden. Dann kam der Krieg in der Ukraine, und Putins Russland entpuppte sich als höchst aggressiver Gegner der EU.

Russland wirft einen dunklen Schatten auf den Balkan, mehr ist es im Augenblick nicht, doch das reicht schon mal, um der EU Beine zu machen.

Also sind sie alle hier, die Europäer, die Russen, die Amerikaner, die Saudis, die Türken – und es herrscht das Gefühl, dass in dieser offenen Stadt Sarajevo nach vielen Jahren des Stillstands wieder an einem etwas größeren Rad gedreht wird.

 

Vorsichtig mit Libyen

Die EU will gegen Schlepper notfalls mit Gewalt vorgehen, nicht nur auf dem Wasser. Sprich in Libyen, denn von dort kommen derzeit die meisten Flüchtlingsboote. Dass die libysche Regierung eine solche Mission vor ihrer Küste und erst recht an Land abgelehnt hat, lässt bereits erahnen: Eine einfache, überzeugende Lösung ist das nicht. Das Vorhaben würde de facto schnell ein militärischer Einsatz der EU in Libyen – ein Tabubruch, dessen Risiken man sich bewusst machen muss.

Wie groß sie sind, das macht ein Vergleich deutlich: Somalia. Weiter„Vorsichtig mit Libyen“

 

Das Leben des Marco Camenisch

Die Schweiz hat einen Terroristen hervorgebracht. Ja, Sie haben richtig gelesen: Die Schweiz und Terror sind kein Gegensatzpaare. Im Fall des gebürtigen Bündners Marco Camenisch gehört beides sogar eng zusammen. Im Jahr 1979 sprengt Camenisch aus Protest gegen die Atomkonzerne und den Bau von Staudämmen verschiedene Anlagen von Elektrokonzernen in die Luft. In jenen Jahren gab es in der Schweiz eine breite Bewegung gegen Atomkraftwerke und die Zerstörung der Natur. Sie reichte bis weit in das bürgerliche Lager hinein.

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Das Modell Australien taugt nicht für Europa

Wenige Tage nachdem über 1.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken waren und Europa mit sich selbst rang, was denn nun zu tun sei, meldete sich der australische Ministerpräsident Tony Abbott zu Wort: Er habe die Lösung, Europa müsse nur das australische Modell übernehmen. Auch die australische Außenministerin empfahl gestern in Berlin recht stolz ihre Flüchtlingspolitik.

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