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Das Drehbuch der Revolution

 

Ben-Ali ist weg. Mubarak ist weg. Gadhafi wankt. Jetzt geraten die Saudis in den Blick. Eine Revolution und ihre Etappen. Seit Wochen rast eine Umwälzung durch Arabien. Mit einer Dynamik, wie wir sie eigentlich nur aus Drehbüchern kennen. Denn auch Filmplots werden gestaucht erzählt, um den flüchtigen Zuschauer bei Laune zu halten. Figuren werden überzeichnet, Situationen dramatisiert und Spannungsbögen verstärkt.

Aber die Geschichte, die uns hier dargeboten wird, ist real, der Plot atemberaubend. Mit schnellen Schnitten wird in kurzer Zeit erzählt, was vor Monaten noch für Jahre unmöglich schien. Dabei sind die Protagonisten teilweise so unrealistisch bizarr, dass man sie keinem Drehbuchautor durchgehen lassen würde. Aber die Wirklichkeit ist gerade mit Hochgeschwindigkeit auf der Überholspur unterwegs. Und die US-Depeschen, die Wikileaks tagtäglich veröffentlicht, spielen eine wichtige Rolle.

Über die Dekadenz der tunesische Herrscherfamilien berichteten wir hier schon ausführlich (Tunesien: Die erste Wikileaks-Revolution?). Sie machte unter anderem mit der Käfighaltung einiger Löwen zu Unterhaltungs- zwecken von sich reden. Eskapaden dieser Art wirken jedoch eher kleinbürgerlich gegen den Größenwahn des libyschen Gadhafi-Clans (siehe auch Tage des Zorns).

Während die Söhne Gadhafis ja bereits einschlägig bekannt sind, zeigt sich ihr Vater in diesen Tagen nicht nur als schillernder Halunke und Menschenfeind, sondern auch wieder als Mann mit einer Vorliebe für verstörende Auftritte. Seine groteske 20-Sekunden-Ansprache in einer theaterreifen Kulisse, zwischen Ruinen, Autoteilen und einem Regenschirm ist dem Zuschauer noch präsent (man war überzeugt Ausschnitte einer Beckett-Inszenierung aus den 80er Jahren zu sehen), da legte er gestern bereits nach. Während sein Land auseinanderbricht, erklärt der Mann mit der Neigung zur Fanatsieuniform in einem Gespräch mit dem amerikanischen Fernsehsender ABC in aller Seelenruhe, dass sein Volk ihn liebe und bereit sei, für ihn zu sterben. Derartige Äußerungen in einem von Bürgerkriegsszenen erschütterten Land, dürften bestenfalls noch als Anschauungsmaterial für Studenten der Psychopathologie dienen.

Aber die Bizarrerien der arabischen Herrscher sind längst noch nicht alle bekannt. Unser Revolutionsfilm ist erst in Teilen erzählt. Und den Wikileaks-Depeschen kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu. Sie sind zwar nicht der Plotkicker, jenes Ereignis, das eine Geschichte in Gang bringt. Aber sie haben die elementare Funktion, uns die Background-Storys zu erzählen. Denn so wie jede gute Drehbuchfigur eine Geschichte hat, die weit über die erzählte Zeit des Films hinausgeht, so haben auch die arabischen Herrscher jeweils eine Geschichte, die weit über die aktuelle Umsturzsituation hinausgeht. Und diese Geschichten legen uns die US-Depeschen dar, die Wikileaks wohl dosiert veröffentlicht. Es sind Geschichten aus jener Zeit, in denen die Diktatoren der arabischen Welt noch Staatsmänner waren, mit denen man gute Geschäfte machen konnte.

Die Background-Geschichten erzählen uns das, was die Diplomaten, Dienste und dementsprechend jene Politiker des Westens, die sich jetzt mit Abscheu distanzieren, schon seit Jahren wussten. Ob es nun Bahrains Kronprinz ist, über den durch Wikileaks-Depeschen unlängst bekannt wurde, dass er sich nicht gerade als Fan der Demokratie versteht (by the way: so hübsch codiert, kommt ein autoritärer Anspruch selten daher). Oder unsere Buddys aus Saudi Arabien, die überraschender Weise doch nicht das sind, was man lupenreine Demokraten nennen könnte. Das Maß an Rücksichtslosigkeit, Selbstherrlichkeit und Skrupellosigkeit entspricht wohl dann doch eher dem, was es ist – einer absolutistischen Monarchie. Und sie sind es, auf die wir jetzt unsere Hoffnungen setzen. Zumindest was die stabile Versorgung des Westens mit Erdöl angeht, da der Kollege Größenwahn aus Tripolis sich erstmal für einen blutigen Kampf gegen sein eigenes Volk entschieden hat.

Bleibt nur noch die Frage, um was für eine Art Film es sich handelt. Komödie und Liebesfilm scheiden aus. Kommen nur noch Groteske, Drama und Tragödie in Betracht. Sie haben die freie Wahl.