Die Zukunftshoffnung der Republikaner, Sarah Palin, hat es getan. Auch der berühmt berüchtigte Radiomoderator Rush Limbaugh hat es getan. Der Kommentator des umstrittenen Nachrichtenkanals Fox News, Bob Beckel, hat es ebenfalls getan. Dazu kommen Offiziere der US-Armee, Journalisten, Politiker und Blogger. Sie alle haben zur Jagd auf Julian Assange aufgerufen. Eine anschließende Tötung nehmen die meisten billigend in Kauf, andere fordern sie explizit ein.
Wikileaks hat mittlerweile reagiert. Auf der Seite www.peopleokwithmurderingassange.com werden Jagd- und Tötungsaufrufe dokumentiert. Ein Panoptikum des Grauens.
Ein Republikaner namens Peter T. King, ganz nebenbei Vorsitzender des United States House Homeland Security Committee, verlangt, amerikanischen Firmen grundsätzlich die Zusammenarbeit mit Wikileaks zu verbieten. Der McCarthyism lässt grüßen.
Julian Assange hat umgehend zurückgefeuert und mit einer Presseerklärung geantwortet. Er wirft King unter anderem vor, eine Art wirtschaftliche Zensur verhängen zu wollen und spricht ihm erwartungsgemäß jede rechtliche Grundlage ab.
Unterdessen hat Assange in einem Interview mit dem amerikanischen Onlinemagazin NewStatesman gedroht, neue Dokumente zu veröffentichen. Um die Bank of America scheint es aber noch nicht zu gehen. Das große Zittern aber hat dort schon eingesetzt. Nach Auskunft Assanges betreffen die Dokumente Rupert Murdoch und dessen Medienkonzern News Corp. Murdochs Nachrichtensender Fox News war zuletzt nach dem Attentat auf die US-Parlamentarierin Gabrielle Giffords unter Druck geraten. Der Vorwurf: Fox News habe das gesellschaftliche Klima aufgeheizt (Empfehlung: Die wütende Stimme Amerikas). Assange und die Wikileaks-Macher betrachten diese Dokumente jedoch ganz offenbar eher als eine Art Lebensversicherung und wollen sie vorläufig nur publizieren, falls der Druck auf sie weiter wächst. Es ging erstmal nur um einen Blick ins Waffenarsenal.
Twitter hat Punkte gemacht. Zumindest in der Netzgemeinde. Denn Twitter hat die geheime Anforderung persönlicher Daten einzelner Nutzer durch die US-Justizbehörden angefochten und die Betroffenen informiert, unter ihnen war natürlich auch Julian Assange, aber auch der vermeintliche „Verräter“ Bradley Manings und beispielsweise der Programmierer Jacob Appelbaum. Umgehend wurde aus der geheimen Anforderung eine öffentliche. Für den New-York-Times-Autor Noam Chohen die eigentliche Sensation. Nicht die Tatsache, dass die US-Justiz nach Indizien für eine Anklage fahndet und dazu persönliche Daten von Netznutzern anfordert (was spätestens seit dem 11. 9. 2001 eine Art Ermittlungsstandard ist, wenn die nationale Sicherheit gefährdet scheint und geradezu inflationäre eingesetzt wird; schlappe 50.000 Aufforderungen versenden die Behörden jedes Jahr), sondern die Tatsache, dass Twitter widerstanden hat, sich dem üblich gewordenen Vorgehen der Ermittler zu beugen – und dann auch noch das Recht zugesprochen bekam, die Betroffenen zu informieren.
Das US-Blog WorldWideHippies erklärt jetzt, warum Twitter das einzige große Netzunternehmen ist, dass sich der Herausgabepraxis verweigerte. Davon ausgehend, dass weitere Unternehmen wie Google oder Facebook aufgefordert wurden, Daten herauszugeben, führt Autor Cowby Dre aus:
Der Leiter ihrer Rechtsabteilung ist also einer der Besten. Er kommt vom renommierten Berkmann Center for Internet and Society. Und dessen Gründer war kein Geringerer als der Verteidiger eines berühmten „Leakers“: Daniel Ellsberg, der Mann der die so genannten Pentagon Papiere diversen Zeitungen zugänglich machte, das Bild des Vietnamkriegs in den USA fundamental veränderte und 1971 damit ein politisches Erdbeben in den USA auslöste.
Während die Justizbehörden eine weitere Runde gegen Wikileaks nach Punkten klar verloren geben mussten, scheint Twitter schwer Eindruck gemacht zu haben. Zu Recht. Immerhin haben die Macher des Kurznachrichtendienstes einen Präzedenzfall geschaffen. Dementsprechend verlangt Wired-Autor Ryan Single nichts weniger, als einen neuen Industriestandard für Betreiber von Sozialen Netzwerken und andere Unternehmen, die Nutzerdaten einsammeln. Die Überschrift seines Artikels lautet: „Twitter’s Response to Wikileaks Subpoena Should Be the Industry Standard“ und kündigt einen lesenswerten und amüsanten Artikel an.
Wikileaks hat der Weltmacht USA auf’s Maul gehauen. Und zwar mehrfach. Mit Vorsatz. 2010 war ein Jahr digitaler Erdbeben. Und jetzt ist nichts mehr so, wie es noch ein Jahr zuvor war. Politik und Öffentlichkeit haben sich fundamental verändert. Es ist längst bekannt und tausendfach diskutiert, aber zum Start dieses Blogs muss es noch einmal ausgesprochen werden. Wikileaks hat mit der konzertierten Veröffentlichung der Afghanistanprotokolle, der Iraq War Logs und der US-Botschaftsdepeschen in Kooperation mit den Redaktionen der New York Times, des britischen Guardian, des deutschen Spiegel und einiger anderer unsere Einschätzung der aktuellen Kriege und der politischen Diplomatie ebenso gravierend verändert, wie unsere Vorstellung von investigativem Journalismus und (digitaler) Öffentlichkeit. Die ZEIT ONLINE Themenseite liefert hierzu einen Überblick.
Unterdessen sind nicht nur konventionelle Redaktionen aktiv, sondern auch Tausende Wikileaks-Sympathisanten im Netz. Sie haben die von Amazon vor die Tür gesetzte Wikileaks-Seite weltweit hundertfach gespiegelt, also auf Hunderte dezentrale Server kopiert. Unter CrowdLeak.net ist eines von vielen Crowdsourcing-Portalen ins Leben gerufen worden, um den Schwarm unabhängig von Zeitungsredaktionen in den Dokumenten suchen zu lassen. Auch Onlinespiele wie Cablegame und Co zeigen: Wikileaks hat eine breite Basis unter den Netzbewohnern.
Gleichzeitig steht die breite Öffentlichkeit der Fülle neuer Informationen über das schmutzige Gesicht des Krieges und der Radikalität des diplomatischen Tons jenseits des berühmten diplomatischen Parketts überwältigt, irritiert und verunsichtert gegenüber. Verblüfft warten Leser und User auf den nächsten großen Coup.
Das Ringen zwischen der US-Regierung und den Wikileaks-Aktivisten und ihren Sympathisanten setzt sich dabei im Hintergrund fort. Das US-Justizministerium sucht seit Monaten fieberhaft nach Gründen für eine Anklage Assanges, während die Geldflüsse an Wikileaks in den USA massiv behindert werden. Seit einigen Tagen ist nun öffentlich, dass der Dienstleister Twitter zur Herausgabe persönlicher Daten von tatsächlichen oder vermeintlichen Wikileaks-Akteuren gezwungen wurde. Die Justizbehörden sind offenbar noch nicht besonders weit in ihren Ermittlungen.
Aber der Geist will nicht mehr zurück in die Flasche. Eine juristische Handhabe gegen die Whistleblowingplattform ist mehr als fraglich. Der Freedom of Information Act sollte Wikileaks und Assange schützen. Auch wenn sich amerikanische Journalistenorganisationen vielfach distanziert haben, wie der Miami Herald berichtet:
Dazu kommen die täglichen neuen Storys aus den circa 250.000 Depeschen auf. Geheime Satellitenprogramme, Spekulationen über den Verlust der deutschen Führungsrolle beim Thema Klimawandelbekämpfung, Staatsgeheimnisse des Vatikan, versunkene Schätze …
Die Auseinandersetzung wird von Dauer sein. Die Fragen liegen auf dem Tisch und warten auf Antworten. Ist Whistleblowing eine neue Form des Journalismus? Gar überlebenswichtig für eine Demokratie im 21. Jahrhundert? Oder ist es eine digitale Form der Subversion, die das Funktionieren von Staat und Gesellschaft gefährdet? Mit einem Mann an der Spitze, den die Süddeutsche Zeitung im Versuch eines Psychogramms als Gegenverschwörer charakterisierte, den der berühmt berüchtigte amerikanische Radiomoderator Rush Limbaugh gerne am nächsten Baum hängen sehen würde, der als Terrorist gejagt werden sollte, wie es die schwer erträglich Sarah Palin nach der Veröffentlichung forderte und dem der streitbare Onlinepionier Jaron Lanier in einem grauenhaft reaktionären Essay gerade erst “digitale Selbstjustiz” vorwarf.
Das Jahr eins nach Wikileaks ist also gerade erst der Anfang. Wikileaks und die vielen verwandten Portale könnten Staat und Gesellschaft, Journalismus und Öffentlichkeit nachhaltiger verändern, als wir es uns heute vorstellen können.
P.S.: auch der Autor weiß, dass wir nicht im tatsächlichen Jahr eins nach Wikileaks leben. Das Whistleblowingportal wurde ja bereits 2006 ins Leben gerufen. Aber für das digitale Whistleblowing im Allgemeinen und Wikileaks im Konkreten war keines der letzten Jahren so bedeutend wie das letzte. Ein Quantensprung.