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7. Dezember 2020 – Ausgabe 51 (Spezial: Jahresrückblick)

Leserbriefe zu „Kann Vergangenheit trösten?“ von Giovanni di Lorenzo

  

Kompliment an alle Beteiligten, Ihr literarischer Jahresrückblick ist ein großer Wurf, Stück für Stück lesenswert. Mit Bangen sehe ich dagegen der Ausgabe vom 23.12. entgegen. Machen Sie doch bitte einfach eine gewohnt gute ZEIT, ohne Blingbling-SchingelingDuseligkeit und den 1000fach gelesenen sogenannten „Weinachtsthemen„.  – Jürgen Nakott 

 

Heute habe ich die ZEIT aufgeschlagen – und zu lesen begonnen…. Jetzt muss ich unterbrechen und gleich schreiben: 1000 DANK FÜR DIESE WUNDERBARE, INTERESSANTE, AUCH ERSCHÜTTERNDE ABER GLEICHZEITIG TRÖSTLICHE AUSGABE! Sie wird aufbewahrt und, in kleineren Schlucken, wie ein kostbarer Tropfen genossen werden, und selbstverständlich auch zum Nach- und Weiterdenken anregen. Die vielen, persönlichen Beiträge vermitteln den Eindruck des Eingebundenseins in eine große Gemeinschaft. Allein die Titelseite ist ein Geschenk! Ich möchte mich bei Ihnen, lieber Herr di Lorenzo, ganz herzlich bedanken für Ihre Zeilen – sie haben mich bis in die „Knochen“ berührt. – Lisbeth Vontobel 

 

Ihre Vorgedanken zum aktuellen „Zeit-Sonderheft“ 2020 haben mich gerührt, ganz besonders die Erinnerung an die Fragen mit dem Stethoskop an antike Möbel. Möchte noch einen Gedanken anfügen: Besonders kostbare, aufwendig gestaltete Möbel des 17. Jahrhunderts waren Kabinettschränke, die häufig genug Mittelpunkt von Kunstsammlungen waren. Eines der bedeutendsten Kunstkammerschränke aller Epochen war der „Pommersche Kunstschrank“, der von 1611-1616 in Augsburg gefertigt wurde. In mehr als 100 Fächern, oft genug Geheimfächer, befinden sich Gegenstände, die das Wissen der damaligen Welt widerspiegeln.  

Dieser „Kosmos der Welt, häufig in Miniaturform nachgebaut, ist ein Lernort für die herrschenden Regenten. Das Möbel befand sich im Zentrum des Berliner Schlosses, dem heutigen Humboldt-Forum. Die hölzerne Hülle ist im 2. Weltkrieg (1945) verbrannt, der kostbare Inhalt nach der Auslagerung zum Glück heute im Berliner Kunstgewerbemuseum zu betrachten. Hätten die preußischen Könige doch häufiger einmal auf das Wissen in ihrer Kunstsammlung und in den Pommerschen Kunstschrank geachtet. Ihre Möbelbetrachtung mit dem Stethoskop beschreibt, wie man sich der Möbelkunst nähern kann. – Dr. Dieter Alfter 

 

In Ihrem Artikel schreiben Sie: „Wir haben Grund zur Verunsicherung“. Dabei nennen Sie die 2 großen Probleme unserer Zeit: a) Die Digitale Revolution b) die schlimme Seuche. Wir sind einigermaßen geschockt, dass Sie (als Chefredakteur der ZEIT) die wohl größte Bedrohung unserer Zeit mit keinem Wort erwähnen, das Klimaproblem. Ein Armutszeugnis! Wo leben Sie denn? Mein Zeit-Abo gerät in Frage! – Klaus Podubecky 

 

Ich beneide Sie, weil Sie einst in Ihrem Kinderarztkoffer das Stethoskop gefunden haben, das Ihnen Ihre Ängste weggeblasen hat. Mein Stethoskop suche ich noch. Dabei treibt mich als 83-jährigem nicht die Gewissheit einer überschaubaren ‚Restlaufzeit‘ um, sondern die Sorge, ob und wie es der Gesellschaft gelingen kann, der wachsenden Anhängerschar der Faktenleugner, der Querdenker, der Reichsbürger, der Judenhasser und anderer Spezies überhaupt noch Herr zu werden? Haben wir denn nicht alle gemeinsam die Zeit verpasst, den Geist aus der Flasche rechtzeitig einzufangen? Das Wissen um die Notwendigkeit, Demokratien zu verteidigen, ist uns abhandengekommen. Gleichgültigkeit und Desinteresse prägten und prägen das Bild. Die Herausforderungen, die auf uns bei der Bewältigung der enormen, von Corona diktierten, finanziellen Belastungen warten, werden leichter zu meistern sein, als die (Wieder-) Erlangung eines gesunden Demokratieverständnisses, frei von kruden Ideologien und Hass auf Andersdenkende. Das wird ein langer Weg. – Harald Seidel

 

Was soll das Foto einer friedlich schlummernden Vierjährigen mit lackierten Fingernägeln in niedlichem Pollunder im Lager Moria aussagen? Dass die Zustände dort so schlimm nicht sind? Dass in dem Flüchtlingslager kleine Mädchen frühzeitig sexualisiert werden? Angesichts der angeblich katastrophalen Zustände in dem Lager wirkt das Bild irritierend. – Heike Dehnert

 

Vergangenheit kann individuell trösten. Ich genieße das Leben im Alter nicht nur im Kreis meiner Kinder und Enkelkinder, sondern auch der Möbel meiner Kinderzeit. Dies spendet mir Ruhe und Gelassenheit. Das Lamento um die Beschränkungen und die Gefahren der Pandemie haben mich genervt und überlegen lassen, wie das damals war, Ende der 1940er und frühen 1950er Jahre, als ich ein kleiner Junge war. Die Kriegsversehrten, junge Männer, denen ein Bein oder Arm fehlte. Der Postbote, mit dem vom Flammenwerfer zerstörten Gesicht, der mir Angst einflößte und es lange nicht schaffte mein Vertrauen zu gewinnen. Ihre zahllosen Traumata, die jedes Kriseninterventionsteam vor kaum lösbare Probleme gestellt hätten. Später dann die Mitschüler, die teils in bitterer Armut lebten, mehrere Familien in einer Wohnung.

Ich denke an die Mutter, ledig oder Kriegswitwe, die mit ihrem Sohn in einem feuchten Keller lebte und die Mitschülerin, die barfuß in die Schule kam. Diese Gedanken führen mich zur Frage nach unserer gesellschaftlichen Befindlichkeit: Wie steht es nach 75 Jahren Frieden und steigendem Wohlstand mit unserer Fähigkeit, Krisen zu bewältigen? Müssen wir, um unsere Demokratie zukunftsfest zu machen und unsere westlichen Werte in einer zunehmend feindlichen Welt vorbildlich vertreten zu können, nicht ein Mehr an Leidensbereitschaft und -fähigkeit erbringen? Hiermit sind natürlich nicht die gemeint, die sich systemrelevant für das Funktionieren im Gesundheits- und anderen Bereichen einsetzen und auch nicht diejenigen, deren wirtschaftliche Existenz durch Lockdowns gefährdet ist. Gemeint ist der Großteil der Bevölkerung, der primär darunter leidet, sein von Lockdowns unabhängiges Einkommen nicht ausgeben zu dürfen.  – Günther Vieweg 

 

Hat es in den letzten Jahren eine ZEIT-Ausgabe mit wesentlicheren, also zeitloseren und zuversichtlicheren Beiträgen gegeben? Schwer vorstellbar; aber vielleicht ergibt sich bereits aus dem nächsten Jahresrückblick, dem auf das Jahr 2021, eine konkrete Antwort darauf. Bis dahin werde ich wohl ohnehin damit beschäftigt sein, die tiefe Fülle der Edition Nr. 51/2020 gänzlich zu erfassen. Und, um die Leitfrage des werten Giovanni di Lorenzo, ob denn Vergangenheit trösten kann, aufzunehmen: Ein eindeutiges Ja. Weil die gesellschaftspolitisch herausfordernde Pandemie uns die Motivationen und Gedanken etwa von Philosophen und Staatsrechtlern vor unserer Zeit sehr viel sinnhafter, überzeugender und angemessener nachvollziehen lässt. – Matthias Bartsch

 


 

 

Leserbriefe zu „Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften,(…)“ von Susanne Mayer über Susan Sontag, 1978

  

„Die leidenden Gesichter (ihrer) Patienten“ starren die Intensivschwester auch nach Dienstschluss an, obwohl sie sich zu Hause einschließt. Warum leiden die PatientInnen? Sie haben Angst vor Schmerzen und vor dem Sterben. Kein Wunder, denn in keiner Schule, nicht mal in der des Lebens (nur an sehr wenigen Ausnahmeorten oder mit Ausnahmemenschen), lernen wir, dass Leid, Schmerzen und Angst (vor dem Tod) zum Leben dazugehören. Es ist NORMAL, Angst zu haben. Aber wir lernen nicht, damit umzugehen. Wir lernen nur, zu verdrängen, uns abzulenken mit Konsum, Feiern, Arbeit, Sex… Schmerz und Angst sind andere Seiten der Freude. Alles gehört zusammen. „Immer nur Sonne, türkisblaues Meer, andauernd Kaviar… – ich kann’s nicht mehr sehen…“ – so oder ähnlich antwortet die Frau vom Monaco Franze auf die Frage einer Freundin, wie denn nun das Traum-Leben in der Karibik sei.

Es ist normal, Angst zu haben. Wir dürfen das aber auf keinen Fall zeigen (oder nur sehr vertrauten Menschen), denn schon als Kinder haben viele von uns gehört: Stell Dich nicht so an! Reiß‘ Dich zusammen! Bestenfalls: das schaffst Du schon! (nur wie, hat uns niemand gezeigt). Sich schwach zu zeigen, verletzlich, hat meist harte Konsequenzen: man wird verspottet, als Schwächling hingestellt, kriegt vorgeworfen, man habe sich nicht im Griff, man solle nicht so gefühlsduselig sein. Also, so tun als ob: als ob man gut drauf wäre, gut gelaunt oder cool, nichts kann einem was anhaben. Und eines Tages wird man krank, muss ins Krankenhaus, oder man wird alt, kommt ins Pflegeheim. Und keineR hat uns gelehrt, wie das nun geht, mit dem Schmerz, mit der Angst umzugehen. Ein anderer Grund, warum PatientInnen gerade jetzt leiden, ist, dass sie nur noch „Astronauten“ sehen, nicht mehr liebevoll von bloßen Händen berührt werden, keine Besuche mehr bekommen.

Das verstärkt das Leid, verursacht es vielleicht sogar. Viele alte Menschen siechen in den Pflegeheimen vor sich hin. Die demenzkranke Mutter einer Bekannten ist nach 10 Tagen ohne Besuch an einem Schlaganfall gestorben – Zufall? Besonders demente Menschen verstehen nicht, warum sie auf einmal keinen Besuch mehr bekommen. An Corona sterben noch immer überwiegend Menschen über 80 (nur bei dieser Altersgruppe gab es im Frühjahr eine „Übersterblichkeit“). Die meisten mit mehreren Vorerkrankungen (auch diese sind „normal“ in diesem Alter). Wann ist es Zeit, zu sterben? Und wie wollen wir vorher leben? Meine Mutter war in den letzten Jahren depressiv, der Lebenswille schwand zusehends, beides unausgesprochen (sie gab viel auf den „schönen“ Schein). Dann stürzte sie und starb.

Kurz vor Corona, gottseidank. Sie hätte auch nicht verstanden, warum sie auf einmal keinen Besuch mehr bekommen darf. Wann ist es Zeit, zu sterben? Ein Tabuthema. Vielleicht ist Corona für manchen ein willkommener Grund, zu sterben? Ein ketzerischer Gedanke, ich erschrecke selbst beim Schreiben. Will man Hilfe beim Suizid, muss man sich prüfen lassen: Wie ernst ist der Todeswille? War man jemals depressiv oder anders „seelisch krank“, wird man wohl nie die Zustimmung bekommen. Dann besteht ja noch „Hoffnung“ (bei den Anderen). Funktionieren, lächeln, konsumieren, gut drauf sein. So sollen wir leben. Verletzlichkeit und Angst haben in unserer Gesellschaft außer im sehr Privaten keinen Platz. – Dr. Katharina Zöller 

 

Es gibt viel Interessantes im Teil „Krankheit und Genesung“ zu lesen. Susanne Mayers abschließende Äußerung zu Susan Sonntag fand ich aber zu hochfahrend. Wenn Susan Sonntag schreibt, New York sei kein Ort, an dem man zu den Sternen aufblicken könne, was die beste Perspektive sei, um sich mit der Sterblichkeit anzufreunden, meint sie natürlich nicht: stehend auf einem Wolkenkratzer, sondern aus den tiefen Schluchten zu enger, sprich menschenfeindlicher Bebauung heraus. Daraus abzuleiten, selbst einer „großen Intellektuellen sei jede Ausrede recht, den Blick auf das Letzte nicht zu wagen“ und das nach all dem, was Susan Sonntag gelebt, erlitten und in Ton und Schrift geäußert hat, hat mich persönlich getroffen.  

Kritik in allen Ehren, aber bitte nicht aus dem Winkel spekulativer Eigensicht. Durch die massive Lichtverschmutzung in New York ist es zudem auch keineswegs garantiert, von den Dächern aus, Sterne am Nachthimmel zu erkennen. „Den Blick auf das Letzte“ wagte Susan Sonntag wahrscheinlich selbst für ihren Geschmack viel zu oft, denn durch die unablässige Konfrontation mit den Themen „Krankheit und Tod“ gab es für sie schlichtweg gar keine andere Möglichkeit dazu. Sicher trägt aber genau dieser unfreiwillige Blick zur Tiefe und Allgemeingültigkeit ihres Wirkens bei. – Bettina Oehmen 

 


 

 

Leserbriefe zum Titelthema „Was für ein Jahr!“

 

Es ist Freitag, der 11.12.2020, 07:45 Uhr. Noch 13 Tage bis Heiligabend. Früher – und damit meine ich den Zeitraum vor dem 13.03.2020 – habe ich um diese Zeit in meinem Büro mit Blick auf den sich langsam füllenden Campus der Ruhr-Universität gesessen, mit meiner Kollegin Kekse gefuttert und wir haben uns auf die anstehende Weihnachtsfeier gefreut. Wir haben über unsere Pläne für die kommenden Feiertage gesprochen und was wir in unserem Weihnachtsurlaub so alles machen wollen: Auf jeden Fall noch einmal auf den Weihnachtsmarkt gehen, endlich mal in Ruhe Filme und Serien schauen, Familie und Freunde treffen, shoppen gehen und natürlich jede Menge essen. Und überhaupt … die freien Tage werden gar nicht reichen für die vielen schönen Unternehmungen. Doch dieses Jahr – 2020 – ist alles anders. Ich sitze zuhause in der Küche vor meinem Dienstlaptop.

Unsere Wohnung ist weihnachtlich geschmückt, obwohl wir wissen, dass uns in diesem Jahr an den Feiertagen niemand besuchen wird. Vor mir steht der Adventskranz, der kaum gebrannt hat. Es ist jetzt 268 Tage her, dass unser Arbeitgeber seine Mitarbeiter das erste Mal ins Homeoffice geschickt hat. Seit März 2020 hat die Pandemie um Corona die Welt fest im Griff. Die schockierenden Zahlen von heute: Fast 30.000 Neuinfektionen, fast 600 Tote binnen 24 Stunden. Ein neuer Höchstwert. Seit Beginn der Pandemie steckten sich weltweit 69.592.554 Menschen mit COVID-19-Virus an und 1.581.856 Menschen starben daran. An manchen Tagen – so wie heute – komme ich mir vor wie in einem der düsteren Filme aus Hollywood, in dem die Menschheit von einem tödlichen Virus bedroht wird, mal mit und mal ohne Zombies.

Hollywood … Gerade mal etwas über 3 Jahre ist es her, dass wir uns in unseren Flitterwochen auf dem Walk of Fame durch die Menschenmenge gedrängt haben, um mal ein Foto ohne fremde Füße drauf zu machen. Heute ist es dort menschenleer. Der Dreh von Filmen und Serien kam fast vollständig zum Erliegen. Die Filme, die es noch in die Kinos geschafft haben, kann sich niemand ansehen, weil die Kinos geschlossen sind. Die USA sind tragischer Anführer auf der Liste mit den meisten Ansteckungen und Todesfällen. Das reichste Land der Welt ist – u.a. dank eines wahnsinnigen Präsidenten – mitten in einer Hungersnot. Millionen von Amerikanern verloren durch die Pandemie ihren Job und somit ihre Existenz. Sie müssen in kilometerlangen Autoschlangen mit ihren Kindern zur Tafel. New York … Die Stadt, die niemals schläft, scheint wie ins Koma gefallen. Die, die es sich leisten können, verlassen Manhattan und fliehen in einsamere und sicherere Gegenden.

Statt Bussen mit Touristen sieht man jetzt vermehrt Umzugswagen auf den ansonsten gespenstisch leeren Straßen. Plünderungen und Krawalle versetzen die Bewohner in Angst und Schrecken. Für mich persönlich waren die USA schon als Jugendliche immer ein Traumreiseziel. Diese unglaublich vielfältigen Landschaften, die interessanten Menschen und der berühmte Lifestyle und die romantischen Eindrücke aus unendlich vielen Filmen haben mich fasziniert. Ein Teil meiner Verwandtschaft lebt dort an der Ostküste. Im August 1997 war ich dort mit meiner Familie für 3 Wochen zu Besuch. Seitdem ist ein Teil meines Herzens dort. Bis heute durfte ich die USA insgesamt 3x besuchen und hatte jedes Mal Tränen in den Augen, wenn es wieder heimwärts ging. Anfang 2020 hatten wir geplant, New York um die Weihnachtszeit zu besuchen, einmal die Magie, den Zauber spüren. Aufgrund der hohen Kosten, hatten wir die Idee dann doch erstmal verworfen.

Heute sage ich „zum Glück“. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich heute die Bilder in den Nachrichten sehe: Kühllaster vor den Krankenhäusern, in denen die Leichen aufbewahrt werden, weil die Leichenhallen überfüllt sind. Bettelnde Menschen, leere Straßen, wo ansonsten das Leben tobt. Hinzukommen die gewältigen Unruhen u.a. im Rahmen der „Black Lives Matter“-Bewegung. Dieses und andere elementar wichtige Themen wie z.B. die verheerenden Brände in Australien werden aufgrund von Corona immer mehr aus den Nachrichten verdrängt. Hier in Deutschland hingegen geht es uns besser. So sieht es zumindest der Großteil der Bevölkerung. Zwar gibt es auch hier leider viele Menschen, die ihre Jobs verloren haben oder in Kurzarbeit sind. Jedoch ist es zumindest ein kleiner Trost, dass wir in einem Land mit einem guten Sozialversicherungssystem und finanzieller Hilfe vom Staat leben.

Trotz der Bedrohung von Existenzen sorgen sich hier viele Menschen immer noch darum, ob auch genügend Toilettenpapier und Nudeln da sind und hamstern sich alles in den Einkaufswagen, was sie kriegen können, auch wenn der Keller noch voll ist. Apropos Einkaufswagen … da wird dann erstmal gemeckert, dass jeder einen Einkaufswagen benutzen muss, obwohl man ja „nur ein Teil“ benötigt. Es wird genörgelt, dass man den so wichtigen runden Geburtstag jetzt nur mit 25 anstatt mit 100 Leuten feiern darf. Und dann noch diese nervige Mund-Nase-Bedeckung. Darunter bekommt man ja so gar keine Luft. Leider gibt es dann auch noch die Stimmen – die in vielen Teilen des Landes auch immer lauter werden – die sagen „Ach das ist doch alles Blödsinn! Die Maske schützt eh niemanden. Kinder können sich doch eh nicht anstecken oder? Ich bin ja noch jung, was soll mir schon passieren?“ gefolgt von vielen aberwitzigen Verschwörungstheorien.

Diese Menschen möchte man gern packen, schütteln und mit Streichhölzern in den Augen vor die Nachrichten setzen und anschreien „Siehst du das? Das ist real! Das passiert gerade!“ Dann gibt’s da noch die Eltern, die bei jeder neuen Debatte vor Kita- und Schulschließungen zurecht zittern. Viele von Ihnen wissen nicht, wohin mit ihren Kids, weil beide in Vollzeit arbeiten (müssen). Andere machen sich Gedanken um die Bildung. Doch es gibt auch Eltern, die diese Probleme nicht haben und trotzdem die Erziehung der Kinder lieber in die Hände der Erzieher und Lehrer legen. Offensichtlich sind das diejenigen, die sich vor der Entscheidung für Kinder keine Gedanken darübergemacht, wie es ist, wenn man plötzlich niemanden hat, der einem diese Aufgabe für eine Zeit abnimmt. Die immer noch andauernden Einschränkungen im Arbeits-, Schul- und Sozialleben sind für alle schwer zu ertragen.

Doch für einige kommt jetzt womöglich der Oberhammer: Angesichts der immer weiter steigenden Zahlen will die Regierung am Sonntag über eine Verschärfung der Maßnahmen beraten und das ausgerechnet zu Weihnachten. Da ist dann auch für viele vollkommen Schluss mit lustig. Neben den Menschen, für die Weihnachten aus familiären, religiösen und/oder romantischen Gründen das Fest der Liebe ist, ist es für andere auch einfach ein Recht der Gewohnheit und die Möglichkeit, ihr Instagram-Profil zu füllen. Da wird dann die Familie eingeladen, die man unterm Jahr eher selten sieht, weil man manche davon gar nicht leiden kann, es wird plötzlich gekocht, gebacken und geputzt. Man streitet sich für die schöne Stimmung mal nicht mit dem Partner. Es werden Tonnen von Geschenken gekauft, die zum Großteil früher oder später auf dem Müll landen. Es muss dann auch ein selbstgeschlagener, üppig geschmückter Weihnachtsbaum her, den alle bewundern können.

Während die Feiertage laufen, beschäftigt man sich dann eher weniger mit dem Besuch, sondern damit, den richtigen Filter für die Bilder auszusuchen, um sie in sämtlichen sozialen Netzwerken zu posten und möglichst viele Likes und positive Kommentare zu erhalten. Wenn das alles wegen Frau Merkel, die in ihrer letzten Rede an uns appelliert, die Wissenschaft ernst zu nehmen, wegfallen sollte, wie soll man sich dann vormachen, dass man in einer schönen heilen Welt lebt? Da wird einem dann plötzlich die Realität ins Gesicht geknallt, mir der nur wenige umgehen können. Ja, auch ich bin traurig, wenn ich nicht wie in den vergangenen Jahren mit meiner Familie eng am Tisch sitzen, lecker essen und unbeschwert quatschen kann. Ich habe ausschließlich schöne Erinnerungen an Weihnachten, vor allem wenn ich an meine Kindheit zurückdenke. Und obwohl sich durch das Erwachsenwerden das Weihnachtsfest mit der Zeit verändert hat, freue ich mich auch heute noch jedes Jahr auf die Weihnachtszeit und die Feiertage.

Was ich aber am meisten vermisse – und das nicht nur an den Feiertagen – ist es, meine Lieben ganz fest in den Arm zu nehmen! Es fehlt mir, in größerer Runde zuhause mit allen gemütlich zu sitzen, ohne Angst zu haben, jemandem zu nah zu kommen. Das alles fehlt mir schon seit 268 Tagen. Dabei geht es mir nicht mal darum, dass ich Angst davor habe, dass es mir selbst schlecht geht. Ich habe viel eher Angst, jemanden anzustecken und davor, was dann mit ihm passiert. Ich kann ohne Geschenke, Tannenbaum und Weihnachtsbraten leben; ich brauche auch kein Weihnachtsshopping und auch keinen Weihnachtsmarkt, auch wenn die Geschäfte und Aussteller uns brauchen. Ich kann aber nicht ohne meine Familie und meine Freunde leben. Und wenn alle ganz tief in sich hineinhören, wird es wohl jedem so gehen. Wir verbringen lieber die Weihnachtsfeiertage alleine mit Fast Food im Keller.

Nächstes Jahr um diese Zeit sagen dann vielleicht: „Hey, weißt du noch letztes Jahr, als wir im Keller Pommes gefuttert haben.“, und nicht: „Weißt du noch letztes Jahr als XY mit uns Weihnachten gefeiert hat. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie/er nicht mehr da ist.“ Ich weiß, dass in dieser Zeit jeder seine ganz individuellen Gedanken und Sorgen hat und ich gehöre auch nicht zu denen, die immer alles richtigmachen und mit dem erhobenen Zeigefinger durch die Gegend rennen. Aber: BITTE „nehmt die Wissenschaft ernst“ und schützt euch und eure Mitmenschen. Es geht nicht nur darum, sich an Regeln zu halten, sondern verantwortungsvoll zu handeln. Klärt eure Kinder richtig darüber auf, was da draußen passiert und sprecht andere Menschen an, die sich weigern, es zu glauben.

Ja, es stimmt: Es sterben jeden Tag Menschen auf der ganzen Welt durch andere Krankheiten wie Grippe, Krebs, HIV, Herzinfarkt, Schlaganfall usw. genauso wie durch Kriege, Hungersnöte, Kriminalität, Suizide etc. oder Altersschwäche. Gegen manche Dinge können wir leider nichts ausrichten, an der Lösung anderer arbeitet die Forschung jeden Tag mit Hochdruck und wieder andere haben wir selbst in der Hand. Gegen das Virus sind wir als Einzelne machtlos, aber wir können gemeinsam verhindern, dass es sich weiter ausbreitet und uns das nimmt, was wir lieben und brauchen. Denn irgendwann wird das Leben wieder weitergehen, vielleicht nicht ganz genauso wie vorher, aber es wird. Und wenn es soweit ist, möchten wir doch, dass all die Menschen, die uns wichtig sind, noch da und gesund sind. – Bianca May 

 

Seit über 40 Jahren lese ich die ZEIT – mit einigen Unterbrechungen. Mit dieser Ausgabe ist Ihnen die beste Ausgabe gelungen, soweit ich mich erinnern kann. Jede Seite ist es wert, mehrmals gelesen zu werden ! Meine Anerkennung und ein großes DANKESCHÖN ! Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft – bleiben Sie gesund, damit die Qualität erhalten bleibt! – Rolf Emenlauer

 


 

 

Leserbrief zu „Die unsichtbare Macht“ von Marlen Haushofer, 1963

 

In Ihrer Sonderausgabe las ich im Autorenregister u.a. den Hinweis auf DIE WAND von Marlen Haushofer, eines meiner Lieblingsbücher. Ich schlug es an einer beliebigen Stelle auf und stieß gleich auf den folgenden Text: Taschenbuch DTV Seite 191: „Am liebsten aber sah ich einfach über die Wiese hin. Sie war stets in leichter Bewegung, selbst wenn ich glaubte, es wäre windstill. Ein endloses sanftes Gekräusel, das Frieden und süßen Duft ausströmte. Lavendel wuchs hier. Almröserl, Katzenpfoten, wilder Thymian und eine Menge Kräuter, deren Namen ich nicht kannte, die aber ebensogut, nur anders rochen als der Thymian. Tiger saß oft mit verdrehten Augen vor einem der duftenden Gewächse und war völlig unansprechbar.  

Er benützte die Kräuter wie ein Opiumsüchtiger das Rauschgift. Seine Räusche hatten allerdings keine bösen Folgen für ihn….. Dann setzte ich mich auf die Bank und wartete. Die Wiese schlief langsam ein. Die Sterne traten hervor, und später stieg der Mond hoch und tauchte die Wiese in ein kaltes Licht. Auf diese Stunde wartete ich den ganzen Tag voll heimlicher Ungeduld. Es waren die einzigen Stunden in denen ich fähig war, ganz ohne Illusionenen und voller Klarheit zu denken. Ich suchte nicht mehr nach einem Sinn, der mir das Leben erträglicher machen sollte. Ein derartiges Verlangen erschien mir fast wie eine Anmaßung. Die Menschen hatten ihre eigenen Spiele gespielt, und sie waren fast immer übel ausgegangen. Worüber sollte ich mich beklagen; ich war einer von ihnen und konnte sie nicht verurteilen, weil ich sie so gut verstand.  

Es war besser, von den Menschen wegzudenken. Das große Sonne-, Mond- und Sterne-Spiel schien gelungen zu sein, es war auch nicht von Menschen erfunden worden. Aber es war noch nicht zu Ende gespielt und mochte den Keim des Mißlingens in sich tragen. Ich war nur aufmerksamer und bezauberter Zuschauer, aber mein ganzes Leben hätte nicht ausgereicht, um auch nur die winzigste Phase dieses Spiels zu überblicken. Dem größten Teil meines Lebens hatte ich damit zugebracht, mich mit den täglichen Menschensorgen herumzuschlagen. Nun, da ich fast nichts mehr besaß, durfte ich im Frieden auf der Bank sitzen und den Sternen zusehen…. – Klemens Enste 

 


 

 

Leserbrief zu „Autorenregister“

 

Zu Ihrer Ausgabe, möchte ich folgenden Brief von 1138 beisteuern. „Ich bin heute früh am Morgen aus dem Haus, habe mich sanft aus meiner Behausung hinausgeschlichen, begleitet von meinen Hunden. Niemand hat mich fortgehen sehen und es ist noch zu zeitig, um die einen oder wenigen Hofbeamten/Kontrolleure zu begegnen, um die Alleen und die Ankunft der Menschen zu überwachen. Ich laufe mit geschwindem Schritt mitten durch die Weinstöcke und Felder, auf den Wald zu und den felsigen Weg, der zum Fluss führt. Der Tag ist bereits klar, keine Wolke stört das immense Blau des Himmelsgewölbes, das auch noch blass ist und das in wenigen Stunden ein sattes Himmelblau haben wird.

Und dennoch zeigt sich die Sonne kaum über den Bäumen, deren Blätter langsam zu sprießen beginnen. Die Natur erhält langsam wieder ihr sommerliches Gewand nach der winterlichen, grauen Zeit. Nun werden die grünen, gelben, orangenen Farben, die mich umgeben, von Tag zu Tag intensiver. Kein Geräusch, abgesehen von dem der Natur und dem Wind. Ich habe die eingeschlossenen Menschen hinter mir gelassen, die, die nicht mehr hinauskönnen. Das Elend hat sich übers Land ausgeweitet und breitet sich so schnell aus, dass keiner es aufhalten kann. Überall in den Städten, in den Straßen, in den niedrigen Häusern hat die Krankheit, die Heerscharen der Armen und Schwachen erfasst.

Die Geschäfte sind geschlossen und die Städte sind von den Hungernden verlassen worden, Totenstille herrscht dort. In den strohgedeckten Häusern, den von hohen Mauern umgebenen Burgen, Schlössern kümmern sich die Frauen um den Haushalt, sticken, nähen und beten. Die Männer trinken, reden, tuscheln, trinken weiter und beten ein wenig. Die Kinder spielen und lernen, sind sich der Gefahr nicht bewusst, die draußen herrscht. Die zwangsweise Notlage hat bei einigen Menschen ihre grausame und animalische Seite hervorgekehrt: Angst u Schrecken haben jeglichen Hauch ihres gesunden Menschenverstandes ausgelöscht. Bei anderen überwiegt die Freundlichkeit, Aufmerksamkeit und Güte.

Am Fluss angekommen betrachte ich das unablässig fließende Wasser und lass meinen Gedanken im silbrigen Schein des Wassers freien Lauf. Ich denke an meine alte Mutter, die zu Hause geblieben ist und weiß nicht, ob ich sie jemals wieder in meine Arme nehmen kann. Ich bin mir bewusst, dass sie so stark ist, dass sie mich überleben könnte und das beruhigt mich und ich denke an meine geliebte Stadt Rouen, die ich eiligst wieder sehen möchte, aber sie scheint mir unerreichbar, so fern. Ich denke an alle Schlachten, die ich bestritten habe, und an all die Länder, die ich durchquert habe, für vergängliche Eroberungen. Das Wasser des Flusses fließt stetig weiter, wie das Leben. Es nimmt Steine mit sich und auch die Zeit und mit der Zeit verschwindet alles. Richard Löwenherz, Cognac 2.4.1198. Vielen Dank für das hochinteressante Lesewerk! – Inge Haslbeck 

 

 


 

 

Leserbrief zu „Die Gefahr der Kurve“ von Martin Beheim-Schwarzbach, 1934

 

Gestatten Sie eine Anmerkung zum Beitrag, der das exponentielle Wachstum anspricht. Der Satz, der Christian Drosten einrahmt, ist mathematisch gesehen, falsch formuliert. Es heißt am Ende „… die so groß ist wie die 64. Potenz eines Weizenkorns“. Die 64. Potenz von einem Korn würde 1hoch 64 bedeuten – und das ist 1! Was ist gemeint: das exponentielle Wachstum bei ständiger Verdoppelung, also 1 – 2 – 4 – 8 – 16 – 32 usw. Daher muss aber die Potenz von 2 betrachtet werden, weil es sich um die Verdoppelung der Körner handelt.

Auf dem 1. Feld des Schachbretts liegt 1 Korn, das ist 2hoch0 = 1, auf dem zweiten Feld 2hoch1 = 2, auf dem dritten Feld 2hoch2 = 4, usw. auf dem letzen Feld des Schachbrettes, auf dem 64. Feld, liegen 2hoch63 Reiskörner. (In der indischen Legende geht es im Übrigen nicht um Weizen- sondern um Reiskörner. Beginnend mit 1 Reiskorn, wird immer verdoppelt und dann die Summe aller Reiskörner gebildet, das wäre dann, Achtung,  2hoch64 minus 1.) – Dr. Heinz Kaiser

 


 

 

Leserbriefe zu „Der Feldversuch“ von Lorraine Haist im ZEIT-Magazin

 

Gerade habe ich sehr interessiert Ihren Artikel „Feldversuch“ von Lorraine Haist im Zeitmagazin gelesen. Dabei musste ich gleich an die neu gegründete Initiative „Hof Lebensberg“ in der Nähe meines Wohnortes denken. Dort soll in einer Hofgemeinschaft ähnlich wie bei Benedikt Bösel unter Anwendung verschiedener Methoden eine Regenerative Landwirtschaft entstehen. Zurzeit sammeln sie in einer Crowdfunding Kampagne Geld für 30.000 Bäume und Sträucher für einen Waldacker. Vielleicht könnte das für Ihre weitere Recherche zum Thema Landwirtschaft als Leuchtturmprojekt interessant sein. – Petra Peter 

 

Der Artikel erweckt den Eindruck, als stamme er unmittelbar aus der Marketingabteilung von Herrn Bösel, von einem objektiv – distanzierten, von Sachkunde getragenen, kritischen Journalismus keine Spur. Zwei Beispiele verdeutlichen diese Bedenken: 1. Unkritisch wird ein erfolgreicher Einsatz subtropischer Pflanzen wie Feigen und Kakis im Osten Brandenburgs ( ! ) suggeriert (s.S.39). Bäume die sich nicht einmal in den wärmsten Regionen Deutschlands wie in der Pfalz oder im Kaiserstuhl als wirtschaftlich profitable Nutzpflanzen haben etablieren können.

2. Gänzlich absurd ist die kritiklose Anpreisung einer Produktion regenerativer Weihnachtsbäume (s.S. 40). Alle in unseren Breiten als potentielle Weihnachtsbäume angepflanzten Nadelhölzer wie Fichten und Tannen einschließlich Unterarten schlagen nach einer Kappung – anders als viele Laubbäume – nicht wieder aus, können daher nicht, wie suggeriert, neue Spitzen und damit neue Weihnachtsbäume bilden. Alles dieses scheint Ihrer Qualitätskontrolle entgangen zu sein. Ich bin übrigens seit ca. 50 Jahren ZEIT – Abonnent. – Ulf Doepner