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Hat Jesus sich verzählt?

 

Am Wochenende haben Christen in aller Welt einmal mehr Pfingsten gefeiert, das Kommen des Heiligen Geistes. Das Wort Pfingsten leitet sich aus dem Griechischen pentekoste ab und bedeutet einfach „50“. Gefeiert wird Pfingsten aber nicht 50 Tage, sondern genau 49 Tage nach Ostersonntag.

Hat sich hier jemand verzählt?

Nein.

Mathematisch betrachtet ist Zählen eine der simpelsten arithmetischen Tätigkeiten überhaupt. Es ist nichts weiter als die beständige Addition von plus eins. Daran gibt es eigentlich nichts, was irritieren sollte. Doch das stimmt nicht ganz.

Zur Zeit der Bibel wurde anders gezählt. Für unser modernes Zählen braucht man nämlich die Null. Die gab es aber damals noch nicht. Nach Europa zum Beispiel kam sie erst im 13. Jahrhundert. Vor der Null wurden zeitliche und räumliche Abläufe mit der Inklusiv-Zählung abgezählt. Demnach war von heute bis heute ein Tag, von heute bis morgen waren es schon zwei Tage, von heute bis übermorgen drei Tage und so weiter.

Das ist unter Historikern bekannt und hat dennoch schon für so manche Verwirrung gesorgt: Im Jahr 46 v. Chr. hat Julius Caesar den Kalender reformiert. Er hatte bestimmt, dass jedes vierte Jahr ein Schalttag eingefügt werden sollte. Ein Schaltjahr war 45 v. Chr. Im folgenden Jahr wurde Caesar ermordet. Dank eines Interpretationsfehlers fasste die Priesterschaft, die damals für Kalenderangelegenheiten zuständig war, Caesars Schaltregel aber gemäß der Inklusiv-Zählung auf. So gab es in den folgenden Jahrzehnten ein Schaltjahr nach unserer heutigen Zählung schon jedes 3. Jahr, und zwar 42 v. Chr., 39 v. Chr. usw. bis 9 v. Chr. Danach setze Kaiser Augustus die Schaltregel bis zum nächsten Schaltjahr 8 n. Chr. aus, um die Verschiebung des Kalenders gegenüber dem astronomischen Umlauf der Erde um die Sonne zu beseitigen. Das brachte ihm einen prominenten Platz in unserem Kalender ein: Der achte Monat ist nach ihm benannt.

Die Inklusiv-Zählung ist jetzt veraltet, doch auch in unserem modernen Leben finden sich noch Spuren von dieser Zählweise, etwa in der Formulierung „in acht Tagen“ womit eigentlich „in einer Woche“ gemeint ist, also „in sieben Tagen“. Auch in anderen Sprachen tritt dieses Phänomen auf. Das Französische quinze jours für „zwei Wochen“ bedeutet wörtlich übersetzt „fünfzehn Tage“. Und die Griechen bezeichnen die Olympiade, also das genau 4-jährige Intervall zwischen den Olympischen Spielen, mit pentaeteris (Fünfjahreszeitraum).

Auch in der Musik kommt die Inklusiv-Zählung vor, wenn zum Beispiel musikalische Intervalle bezeichnet werden sollen. Bei der Prime wird einfach derselbe Ton wiederholt. Und „Intervall“ kommt vom lateinischen intervallum, was so viel bedeutet wie „Zwischenraum“. Zwischen beiden Tönen der Prime liegen also Null Töne. Nach Inklusiv-Zählung ist das ein Zwischenraum von eins. Bei der Oktave beträgt der Zwischenraum nach moderner Zählung sieben Töne, doch der griechische Wortstamm weist auf acht hin.

Die Inklusiv-Zählung hilft auch dabei, andere Bibelstellen zu verstehen. Nach christlichem Glauben ist Jesus am dritten Tag auferstanden, gestorben Freitagnachmittag vor Sonnenuntergang und auferstanden zwischen Samstagnacht und Sonntagmorgen. Im Judentum wird die Samstagnacht zum Sonntag gerechnet. Und der Sonntag folgt zwei Tage nach dem Freitag, was nach der Inklusiv-Zählung der dritte Tag ist.

Eine andere Bibelstelle lässt sich aber nicht gänzlich mit der Inklusiv-Zählung aufklären. Laut Matthäus 12,40 hat Jesus gesagt: So wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Walfisches war, so werde er drei Tage und drei Nächte vor seiner Auferstehung im Grab liegen. Bei dieser Zeitangabe hätte Jesus zudem Gründe gehabt, sehr präzise zu sein. Denn die Schriftgelehrten hatten ihn nach einem Zeichen gefragt, woran sie erkennen könnten, dass er der Messias sei. Und das hatte er ihnen geantwortet. Selbst mit Inklusiv-Zählung kommt man aber nur auf drei Tage und zwei Nächte im Grab. Hat Jesus sich verzählt?