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Qualen bei Wahlen

 

Am Wochenende hat die Europawahl stattgefunden. Deshalb befassen wir uns heute mit dem Thema Wahlen. Jeden Tag wird auf der Welt wohl hunderttausendfach gewählt, über die Zukunft des Klassensprechers oder Staatspräsidenten entscheiden Handzeichen und Stimmzettel. Was könnte gerechter sein?

Eine Wahl soll einen fairen Interessenausgleich in Gruppen mit unterschiedlichen Präferenzen gewährleisten. Doch es gibt zahlreiche Seltsamkeiten. Ein Beispiel: die Mehr-Stimmen-bekommen-ist-besser-Falle.Nehmen wir folgendes Szenario: Drei Kandidaten A, B, C stehen zur Wahl. Das Wahlvolk besteht aus 15 Wählern. Davon favorisieren drei die Alternative A gegenüber B und B gegenüber C. Wir schreiben diese Rangfolge als ABC. Sie tritt in der folgenden selbsterklärenden Tabelle als erste Zeile auf sowie die Präferenzreihungen der übrigen Wähler:

 

Zahl der Wähler Präferenz-ordnung
3 ABC
5 BCA
2 CAB
5 CBA

 

Das Wahlsystem ist zwei-rundig; Mehrheitsentscheid mit Stichwahl heißt es im Fachjargon. Das Verfahren wird in Frankreich bei der Wahl des Staatspräsidenten eingesetzt und in vielen deutschen Bundesländern für die Wahl des Bürgermeisters.

Jeder Wähler stimmt für einen Kandidaten. Wer in der ersten Runde die wenigsten Stimmen bekommt, scheidet aus. Anschließend entscheidet eine Stichwahl zwischen den verbleibenden Kandidaten. In der ersten Runde erhalten A, B, C jeweils 3 beziehungsweise 5 beziehungsweise 2 + 5 = 7 Stimmen. A scheidet demnach aus. Die Wähler mit der Präferenzreihung ABC werden bei der Stichwahl für B votieren, der nach dem Ausscheiden von A der nächste in ihrer Präferenzliste ist. In diesem zweiten Wahlgang erhalten B und C dann 3 + 5 = 8 beziehungsweise 2 + 5 = 7 Stimmen. B gewinnt.

Es ist naheliegend zu denken, dass sich Kandidat A über zusätzliche Unterstützung freuen würde. Über einen „Zwilling“ mit derselben Reihung für jeden seiner Wähler mit Präferenzen ABC. Das würde der gemeinsamen Position ein stärkeres Gewicht geben.

Wirklich? Nicht unbedingt! Stellen wir jedem der drei Wähler mit Präferenzordnung ABC einen Zwilling an die Seite. Dann gibt es statt 15 nun 18 Wähler und die Tabelle sieht so aus:

Zahl der Wähler Präferenz-ordnung
6 ABC
5 BCA
2 CAB
5 CBA

 

Was wird passieren? Im ersten Wahlgang erhalten A, B, C jetzt 6 beziehungsweise 5 beziehungsweise 2 + 5 = 7 Stimmen. B scheidet aus. Die Stichwahl zwischen A und C ergibt für A 6 Stimmen und für C 12 Stimmen. C ist Wahlsieger.

Ergo hat A aufgrund der zusätzlichen drei Zwillinge, die ihn alle auf Platz 1 haben (und C als schlechtesten Kandidaten ansehen), seine Unterstützung verdoppelt. Doch die Unterstützung bewirkt ausgerechnet die Wahl von Kandidat C, den alle A Wähler als schlechteste Wahl ansehen. Das ist das Zwillingsparadoxon in der Theorie der Wahlsysteme. Zusätzliche Unterstützung für den eigenen Favoriten kann also dem unliebsamsten Gegner erst zum Wahlsieg verhelfen.

Das ist nur eines von einem ganzen Strauß von Paradoxien in Wahlsystemen. Ab und an werde ich in diesem Blog auf das Thema Wählen zurückkommen. Ich bin sicher, Sie werden dann über Wahlen und Wahlsysteme nie wieder so denken wie davor. Sie werden womöglich bezweifeln, dass Demokratie im Idealzustand überhaupt möglich ist.