Wie selbstverständlich lesen wir eine Zahl und verstehen die Information, die in ihr steckt. Nehmen wir eine 8: Wir sehen die endlos geschwungene Linie und wissen, mit welcher Mengenangabe wir es zu tun haben. Menschen, die unter Dyskalkulie leiden, können das nicht. Die Rechenschwäche verhindert, dass sie mehr in der 8 sehen als nur das Symbol. 5-10 Prozent der Bevölkerung sollen nach einem Bericht von diesem Handicap betroffen sein. Inge Palme vom Landesverband Legasthenie und Dyskalkulie schätzt sogar, dass in Deutschland etwa 5 Millionen Kinder mehr oder weniger stark von Rechenschwäche betroffen sind.
Hierzulande macht es die Sprache diesen Kindern zusätzlich schwer: Unsere deutsche Sprechweise der Zahlen ist komplizierter als in anderen Sprachen und ziemlich altmodisch. Ein Beispiel: Die Zahl 21 etwa wird entgegen der Reihung der Ziffern als „einundzwanzig“ gesprochen, obwohl die 2 in Leserichtung vor der 1 steht. Im Deutschen – wie in nur ganz wenigen anderen Sprachen – hat sich diese antiquierte Sprechweise bis heute erhalten. Im Englischen etwa gab es schon im 16. Jahrhundert eine Reform, mit der auf „twenty-one“ (zwanzigeins) umgestellt wurde. In Norwegen wurde 1951 im Parlament einstimmig die unverdrehte Sprechweise eingeführt.
Die gegenüber der indisch-arabischen Ziffernschreibweise verdrehte Lesart der Zahlen stammt aus indogermanischen Wurzeln und reicht 4 Jahrtausende zurück. Damals wurden Einer mit einem Strich (I) und Zehner mit einem Kreuz (X) geschrieben: Das Symbol IIIIXX wurde dementsprechend als vierundzwanzig ausgesprochen.
Als die indisch-arabischen Zahlzeichen um das 11.Jahrhundert nach Europa kamen, blieb diese Reihenfolge erhalten. Noch krasser ist die Situation bei mehrstelligen Zahlen. Nehmen wir einmal die Ziffernfolge 98.765. Im Deutschen spricht sich diese Zahl als achtundneunzigtausendsiebenhundertfünfundsechzig. Geht man ins Detail, so sieht man, dass in Leserichtung zuerst die Ziffer in Position 2 gesprochen wird. Dann springt man zur Position 1, anschließend muss man von vorne in die Mitte springen, dann ans Ende und von dort nach Position 4. Es ist ein verwirrendes Hin und Her, das nicht nur Ausländern, die die deutsche Sprache lernen wollen, sondern auch vielen Deutschen Schwierigkeiten macht. Wie übersichtlich ist dagegen das Englische, das in Übersetzung folgendermaßen lautet: neunzigachttausendsiebenhundertsechzigfünf. Kurz und knapp und unverwirrend. Das sehe ich als eine Verbesserung an. Mehr noch: Ich kann keinen Vorteil unserer Vorgehensweise erkennen.
Übrigens wurde schon vor 500 Jahren eine große Chance zur Entwirrung unserer Zahlenlandschaft vertan. Der Rechenmeister Adam Riese hatte 1522 ein Buch zum schriftlichen Rechnen verfasst und darin angeregt, 6789 als sechstausendsiebenhundertachtzehnneuneins zu sprechen. Das hat sich allerdings in Deutschland nicht durchgesetzt. In China und in Japan dagegen sehr wohl.
Interessanterweise haben Studien gezeigt, dass chinesische Kinder im Alter von 4 Jahren im Schnitt schon bis 50 zählen können, während gleichaltrige Kinder hierzulande es im Mittel nur bis 15 schaffen. Und da wir gerade bei diesem Thema sind: Kindern, die sich im Deutschen schwertun im Rechnen, fällt es viel leichter im Englischen. Das sind starke Indizien für die These, dass die sprachliche Strukturierung des Zahlenraums die Leichtigkeit des Zurechtfindens in ihm beeinflusst.
Ich plädiere hier nicht für die Abschaffung unserer traditionellen Zahlensprechweise. Aber was spricht dagegen, beide Varianten nebeneinander zu erlauben? Verwechslungsmöglichkeiten dürften gering sein, schließlich sind beide hinreichend voneinander abgegrenzt.
Dazu würde mich Ihre Meinung interessieren. Insbesondere: Sagen Sie lieber einundzwanzig oder zwanzigeins? Und welche Variante, denken Sie, würde sich langfristig durchsetzen?