Die Reaktionen auf das Manifest der Ostdeutschen sind gewaltig. Ist es wirklich so schlimm, fragen manche. Ja, und noch schlimmer, antworten andere. Die besten Kommentare
Tut doch nicht so, als sei alles in Ordnung titelten wir in der vergangenen Woche. Neun junge Ostdeutsche nahmen es mit der Ansicht der Kanzlerin auf, dass man in der Nachwendegeneration nicht mehr zwischen Ost und West unterscheiden kann. Sie berichteten von Diskriminierungen, vom Desinteresse im Westen, vom Schweigen der Eltern.
Die Leserreaktionen auf den Text waren überwältigend. Ost- und Westdeutsche berichten noch jetzt von eigenen Erfahrungen und diskutieren die anderer Leser – so nachdenklich, wohlwollend und spannend, dass wir einige der interessantesten hier wiedergeben möchten.
Viele großartige Kommentare haben es nicht in diese Liste geschafft. Und die Debatte, die sich um die Kinderkrippen-Misshandlungen von Elisabeth Rank entspannte, haben wir hier noch einmal einzeln dokumentiert.
Wir hoffen, dass wir mit diesem Beitrag die wertvolle, kritische Diskussion fortführen können, die sich zum Thema deutsche Einheit in den vergangenen Tagen entwickelt hat. Für alle, die neu hier sind: Steigen Sie ein!
Am Rande: Wir haben uns erlaubt, Rechtschreib- und Grammatikfehler zu entfernen. Außerdem haben wir der besseren Lesbarkeit wegen Auslassungen vorgenommen. Falls Sie den ganzen Beitrag lesen wollen: Der Autorenname verlinkt jeweils auf den Originalkommentar.
Die neunziger Jahre in den neuen Bundesländern waren eine Ausnahmesituation! Wir sind in Autos gefahren, in denen kein Verbandskasten, aber ein Baseballschläger hinter dem Fahrersitz lag. Wir haben brennende Ausländerheime mit grölenden Nachbarn davor gesehen. Wir wurden, nur wegen langer Haare und trotz blonder Haarfarbe und hellem Teint, aus national befreiten Zonen vertrieben. […] Im Gegensatz zu unseren Brüdern und Schwestern aus den alten Bundesländern haben wir hautnah beobachtet, wozu eine großflächige ökonomische Krise, gepaart mit tiefgreifenden Umwälzungen führen kann. Und es ist unsere Pflicht davon zu berichten!
Natürlich habe auch ich am eigenen Leib Diskriminierung als Ostdeutsche erlebt, könnte viele Geschichten dazu erzählen. Etwa als eine Führungskraft in einer Leitungsrunde nach dem 20. Jahrestag der Wiedervereinigung im voll besetzten Besprechungszimmer zu mir über den Tisch ruft: “Wie lange füttern wir Euch jetzt schon durch, 10 Jahre?”. Und ich als einzige Frau im Raum, als einzige mit ostdeutscher Herkunft und als jüngste Person einfach schnell gekontert habe: “Sie irren, 20 Jahre ist das schon her. Aber bald werden die innovativen Leute aus Ostdeutschland, wie ich es bin, ihre Rente zahlen. Seien Sie also besser froh, dass es so ist wie es ist.” […] Ich habe gelernt, mich durchzubeißen – wobei mir sicher auch meine Vergangenheit hilft, weil ich diesen unbedingten Willen mitbringe, den es manches Mal braucht, um Ziele auch tatsächlich zu erreichen. Und ich habe gelernt, mir nichts, was Unrecht ist, gefallen zu lassen.
Ich habe im Gegensatz zu den Autoren des Textes mehr Toleranz erfahren. Ich werde als Ostdeutscher gelten gelassen, meistens. Aber ich habe mich auch angepasst. Wenn ich hier mit “Nu, gutn Dooch” ankommen würde, gäbe es sicher auch Häme. Ich stehe zu meiner Herkunft, aber ich lass es nicht raushängen.
Deal with it! Definiert euch nicht länger durch die Meinungen anderer Leute. Ihr selbst bestimmt, welche Identität ihr euch gebt. Und wenn mal wieder ein flapsiger Spruch kommen sollte, jo mei. Dann beglückwünscht man den Gegenüber eben dazu, diese tollen Stereotypen auswendig gelernt zu haben und bittet sie um das Fleißheftchen, um ein Bienchen einstempeln zu können.
Wenn geschrieben wird, “der Westen machte mich zum Ossi”, dann kann ich nur sagen, dass die Bürger Ostdeutschlands die Mitbürger aus dem Westen ebenfalls als Wessi titulieren und dass das manchmal keineswegs spaßig gemeint ist, sondern mit dem Unterton – jeder im Westen hat den Osten geplündert und die Arbeitsplätze vernichtet.
Ich verstehe nicht das Gewicht, diese übersensible Intellektualisierung, dieses Sich-Ausgegrenzt-Fühlen, […] dieses Nicht-Verstanden-Fühlen, diese Wehmut… Warum? Geht das nicht unverkrampfter?
Enger, vertrauensvoller familiärer Zusammenhalt, familiäres Glück, Lachen auf Einschulungen, Jugendweihen, Konfirmationen, Hochzeiten, lustige Betriebs- und Hausgemeinschaftsfeiern – darf es das gegeben haben? Oder gilt nur der West-Urteilsspruch der “Zwangs- und Notgemeinschaft”?
Ich selbst (Jahrgang 1934) habe dieses „Nicht-in-Ordnung-sein“ kurz nach der Vertreibung aus meiner Heimat in Pommern ausgiebig kennengelernt. Die ungeliebten Schwestern und Brüder aus dem (damaligen) Osten waren in einer viel dramatischeren Lage, als die junge Generation aus der DDR es je war! Was denkt Ihr denn eigentlich, wie es bei uns damals war? Plötzlich war alles genau diametral entgegengesetzt richtig, als wir es gelernt hatten. 1990 war es gewaltig besser. Natürlich – es war (in meinen Augen) keine Wiedervereinigung, es war ein Anschluss an vorgegebene Werte und Ideologien. Aber doch ein wenig zum Positiven hin – anders als in meiner Jugendzeit.
In keinem Industrieland der Welt waren Frauen je so unabhängig, selbstbewusst und selbstständig wie in der DDR; waren patriarchale Strukturen so aufgebrochen, dass Frauen ihren Lebensanspruch mit und jenseits von Familie verwirklichen konnten. Die meisten DDR-Männer waren gut domestiziert und der Hausarbeit mächtig. Die Ware Frau gab es nicht. Keinen käuflichen Sex, viel weniger Sexismus und Diskriminierung, viel weniger Gewalt, viel weniger Entwertung und Missbrauch. […] Die geschlechterbezogenen Strukturen, Zwänge und Gefahren in der BRD sind dagegen manchmal mittelalterlich; fühlen sich für verwöhnte DDR-Frauen auch so an. Feminismus in der DDR bedeutete in etlicher Hinsicht und im positiven Sinne Emanzipation; militante Kampf-Lesben brauchte es dazu nicht.
Es haben aber auch fast ausschließlich Frauen eingekauft, geputzt, gekocht, die Kinder versorgt. Den berühmten Haushaltstag gab es selbstverständlich nur für Frauen, und dass Väter wegen der Krankheit eines Kindes der Arbeit fern bleiben, war nahezu unbekannt.
Ich hätte Interesse zu erfahren, warum wir keine gemeinsame neue Nationalhymne kreiert haben? Wir haben den neuen Deutschen die Hymne der Wessis auferlegt, sie zu lernen und lieben zu lernen. Ging man davon aus, dass die Wessis nicht bereit waren, diesen Schritt in eine gemeinsame Zukunft zu machen? Hätten sich nicht ein paar Liedermacher aus Ost und West zusammen setzen können, um etwas Neues zu kreieren?
Aber wer spricht über unsere Eltern? Sie alle – damals so um die 30 – müssen das alles wie einen Schock erlebt haben. Plötzlich sollte nichts mehr gelten, was vorher galt. […] Einfach so ins kalte Wasser. Und gleichzeitig durften sie über ihre erlebte Geschichte kaum öffentlich schmunzelnd-sehnsüchtig erzählen, ohne dass diese Nostalgie gleich als systemverherrlichende Ostalgie abgewatscht wurde. Das sind Risse, aus denen psychische Krisen werden können. Und trotzdem haben es die meisten doch gut geschafft und uns auch noch mit auf den Weg gebracht. Und dazu im Vergleich unsere “Probleme” und “geraubte Pittiplatsch-Erinnerungen”? Nee – wir sollten uns nicht so wichtig nehmen.
Letzten Endes könnten diese Texte – zumindest die meisten – sinngemäß auch von Deutschtürken oder jedem anderen Menschen mit Migrationshintergrund verfasst worden sein. Nur bei den Deutschen macht man – typisch deutsch – eine ganz große Sache mit Innerlichkeitsgeraune draus.
Im übrigen haben wir ehemaligen Westler auch was zu erzählen. Hört Ihr zu oder wird das alles unter “Kapitalismus” abgehakt?