„Ich möchte das nächste CNN erschaffen.“ Worte wie diese erinnern aus den Mündern der meisten Journalisten wohl sofort an Größenwahn. Bei Shane Smith klingen sie dagegen geradezu normal. Der gebürtige Kanadier war noch nie ein Leisetreter. Weder 1994, als er das kostenlose Jugendmagazin Vice in Montreal ins Leben rief. Und schon gar nicht heute, da Vice längst zu einem internationalen Medienunternehmen mit 35 Büros weltweit gewachsen ist. Das ist zwar noch nicht ganz die Größe von CNN, aber immerhin.
Viel wurde über Smith und sein Unternehmen in den vergangenen Wochen geschrieben. Der New Yorker hatte ein langes Porträt veröffentlicht, der Guardian ebenfalls und auch die Print-Ausgabe der ZEIT nahm sich den „Journalisten-Hipstern“ an. Der Grund: Eine neue Kooperation mit dem US-Bezahlsender HBO. Wöchentlich läuft nun eine Nachrichtensendung, in der Vice-Reporter über abseitige Themen berichten. Nicht allzu lang, eine halbe Stunde bloß und zunächst für zehn Episoden. Und doch ist es ein Zeichen dafür, dass Web-Inhalte immer wichtiger für die klassischen TV-Sender sind.
Dass Vice für eine eigene Form des Journalismus zwischen Gonzo und Selbstdarstellung steht, ist schon länger bekannt. Vice-Geschichten sind mitunter brillant investigativ, bisweilen sensationsheischend und stets provokativ. Coups wie der Zutritt ins verbarrikadierte Nordkorea mit Basketballer Dennis Rodman oder das (am Ende unglücklich verlaufene) Treffen mit dem flüchtigen Software-Unternehmer John McAfee haben dem Titel in den vergangenen Monaten noch einmal erhöhte Aufmerksamkeit beschert. Längst verfolgen bekannte Publikationen die Arbeit der New Yorker. Meistens noch immer mit argwöhnischer Distanz, aber mit steigendem Interesse.
Der wichtigste Schritt in der Geschichte von Vice aber liegt nicht bloß in einer eigenen Vision von Journalismus: Er liegt im konsequenten Übergang von Print zu Video, den Vice seit Jahren betreibt. Zwar gibt es auch noch das Magazin, längst aber ist Vice vor allem für seine Videoproduktionen bekannt. Ganz egal ob es sich nun um abseitige Reiseführer, Reportagen aus Krisengebieten oder Katzencontent handelt: Wenn es ein Publikum gibt, ist Vice vor Ort. Schon 2007, als weitaus größere Medienhäuser noch zaghaft mit eigenen Bewegtbildern experimentierten, drehte Vice mit seinem Videoportal vbs.tv die Dokumentation Heavy Metal in Baghdad, die es unter anderem auch auf die Berlinale schaffte.
Seitdem hat Vice sein Publikum gefunden – vor allem im Netz. Wie kaum eine andere Marke hat Vice es geschafft, die sogenannte Generation Y, die Digital Natives, an sich zu binden. Allein der YouTube-Kanal verbucht inzwischen über 1 Million Abonnenten. Mehr als 80 Prozent seines Umsatzes erzielt Vice inzwischen online dank eines cleveren Geflechts aus Branded Content, Kooperationen und klassischer Werbung. Vor allem junge Männer, eine für Werbekunden schwierige Zielgruppe, stehen auf die Vice-Inhalte, auf die Mischung aus Gefahr und Abenteuer, aus Hipstertum und Humor.
Auch deshalb wurde HBO auf das Programm von Vice aufmerksam: Es sind gerade die jungen Zuschauer, die für Pay-TV-Sender wichtig sind. Deshalb zeigt sich eine neue Entwicklung. Waren es lange Zeit die Sender wie HBO, die sich mit neuen Serien und Formaten vom traditionellen Programm absetzten, schafft mit Vice nun ein alternatives Angebot aus dem Netz den Weg in die Beletage des US-Fernsehens. „Die Vermittlung von Nachrichten muss mit der Generation wachsen, die ihre Informationen nicht mehr so eng verpackt haben möchte“, sagt Michael Lombardo von HBO zur Entscheidung, die Sendung ins Programm aufzunehmen. Und es wird nicht die letzte sein, die diesen Sprung schafft. Die Kooperation mag ein Erfolg für Vice sein. In jedem Fall ist sie ein Erfolg für die Generation YouTube.