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Netzfilm der Woche: „Sevilla“

Drei Freunde, ein alter Volvo, alle Zeit der Welt und ein zufällig ausgewähltes Ziel: Sevilla. Es geht um das große Abenteuer, das Treibenlassen, die Sehnsucht nach dem Unerwarteten und Neuen. Es ist der Stoff, aus dem sowohl Road-Trip-Träume als auch Jeans-Werbungen gemacht sind. Der niederländische Filmemacher Bram Schouw hält in Sevilla die traute Dreisamkeit seiner Protagonisten in 16-Millimeter-Filmnostalgie fest.

Tatsächlich beginnt Sevilla wie ein Werbeclip oder ein Musikvideo. Die drei Freunde – ein Pärchen und ein scheinbarer Einzelgänger – lassen kaum ein Klischee aus bei ihrer Reise gen Süden: Es wird gelacht und geflachst, im Auto geschlafen, Rotwein aus Flaschen getrunken und der Sonnenuntergang im Kornfeld bestaunt.

Doch die Stärke von Sevilla liegt in seiner Doppeldeutigkeit. Die Beziehung der drei Protagonisten untereinander scheint nur ganz am Anfang klar. Aus den Augenwinkeln seiner Protagonisten liest man sexuelle Andeutungen, die den Zuschauer rätseln lassen: Geht es um unerwiderte Begierde untereinander? Und zwischen wem? Der Frau und dem Mann? Oder zwischen den beiden Männern?

Der Bruch kommt tatsächlich – aber kaum so, wie man es nach den ersten Minuten erwarten könnte. In einer überraschenden Wendung nimmt Sevilla plötzlich einen dunkleren Weg, der dennoch wieder zum Anfang des Films zurückführt: Es geht um Freundschaft – und wie man sie am Leben erhält.

 

Netzfilm der Woche: „Prospect“

Ein Kommentar unter dem Video von Prospect bringt es auf den Punkt: „Ich mag diesen wiederauflebenden Indie-Zugang zu Science-Fiction.“ Im Fall von Prospect ist leicht zu sehen, was damit gemeint ist. Der Kurzfilm, aufgenommen in den Wäldern des US-Bundesstaats Washington, hat diesen Look, der mit seinen Filtern schnell an die Bilder auf Instagram erinnert: alles etwas weich, alles etwas Sepia. Dazu kommen die Requisiten: Raumanzüge aus den sechziger und siebziger Jahren geben Prospect die nötige Brise Retro-Futurismus.

Die Geschichte handelt von einem Vater und seiner Tochter, die auf einem entfernten Planeten gelandet sind (After Earth, anyone?). In den wunderschönen, aber giftigen Wäldern suchen sie nach Aurealac – Raupen, die offenbar viel wert sind. Doch sie sind nicht alleine: Die Konkurrenz pirscht ebenfalls durch die Wälder, und so entwickelt sich nicht nur ein Kampf ums Überleben, sondern auch eine kleine Coming-of-Age-Story: Denn es ist die Tochter, die am Ende die wichtigen Entscheidungen treffen muss.

Prospect debütierte erst vor wenigen Wochen auf dem SXSW Festival. Zuvor finanzierten die Macher den Kurzfilm erfolgreich über eine Kickstarter-Kampagne. Insgesamt standen dem sechsköpfigen Team von Shep Films 28.000 US-Dollar zur Verfügung, wie sie im Blog No Film School schreiben.

Das reicht nicht für viele krachende Effekte, aber die braucht Prospect ohnehin nicht. Neben dem Retro-Ansatz konzentriert sich der Kurzfilm vor allem auf die Stimmung, dieses ständige Gefühl, dass etwas nicht zu stimmen scheint. Dazu flirrt und surrt es fleißig vor der Linse, bis auch der letzte Zuschauer erkennt: Ja, das ist wirklich hübsch gefilmt. Prospect ist vielleicht Sci-Fi für Hipster. Aber das muss ja nicht schlecht sein.

 

Netzfilm der Woche: „Fathoms“

Auf den ersten Blick erzählt der animierte Kurzfilm Fathoms eine klassische Endzeitgeschichte. Die jugendliche Sam driftet mit ihrem Kater Hippo und Ziehvater Evan in einem zusammengeschusterten U-Boot durch die überfluteten Überreste New Yorks. An der Oberfläche tosen elektrische Stürme. Es geht nicht bloß ums Überleben. Es geht darum, den Sinn in einer scheinbar sinnlosen Welt zu finden.

Konzept-Art (© Mografi)
Konzept-Art (© Mografi)

Auf den zweiten Blick ist Fathoms persönlicher. Der Animationsfilmer Joe Russ hat den Film als Hommage an seinen Vater konzipiert. Der starb an Krebs, als Russ 17 Jahre alt war. Sechs Jahre lang arbeitete Russ  an Fathoms, die Storyboards und die Animationen erstellte er in seiner Freizeit, an Abenden und Wochenenden. Über eine Kickstarter-Kampagne konnte er den Film schließlich fertigstellen. Die Entwicklung hat er in einem Blog dokumentiert.

Dieser Kontext ist wichtig, denn er gibt Fathoms eine zweite Deutungsebene. Die Protagonistin im Film trauert nämlich ebenfalls um ihren Vater. Kurze Rückblicke bringen die Zuschauer an dessen Krankenbett. Der Abschied im Film wird zum verspäteten Abschied des Filmemachers von seinem Vater. Die überfluteten Reste Brooklyns im Film zeigen bekannte Bauwerke des Viertels, die Russ auf seinem täglichen Weg zur Arbeit passierte.

All das erzählt der Regisseur mit einem Animationsstil, der ein wenig an Videospiele erinnert. Die Figuren sind kantig, im Fachjargon Low-Poly genannt, die Farben wechseln je nach Situation von Blau in ein bedrohliches Rot oder warme Pastelltöne. Diese Details trösten dann auch über die an einigen Stellen etwas langatmige Geschichte hinweg. Fathoms ist auch auf den dritten Blick ein gelungenes und ergreifendes Hobbyprojekt.

 

Netzfilm der Woche: „SLR“

Grenzen sind nicht immer leicht zu definieren. Das stellt Elliott, der Protagonist aus Stephen Fingletons Kurzfilm-Thriller SLR eines Tages fest. Er überschreitet sie nämlich selbst: Er sammelt Bilder von leicht bekleideten Frauen im Park, Aufnahmen von versteckten Kameras in Umkleidekabinen, von sogenannter Voyeur-Pornografie. Doch als in seinem Stammforum plötzlich Bilder seiner eigenen 17-jährigen Tochter auftauchen, steht Elliott plötzlich auf der anderen Seite. Er macht sich auf die Suche nach dem Fotografen – und hinterfragt dabei seine eigenen Triebe.

Die Idee für SLR kam Fingleton, nachdem er einen Artikel gelesen hatte, in dem eine Journalistin herausfand, dass sie heimlich fotografiert wurde. Der Tipp kam ausgerechnet von einem Kollegen – der auf der gleichen Website, auf der die Bilder gepostet wurden, unterwegs war.

Sechs Jahre lang dauerte die Produktion von SLR von der ersten Idee bis hin zum fertigen Film, sagte Fingleton dem Blog One Small Window. So lange habe er benötigt, um die Finanzierung sicherzustellen, und ihn gleichzeitig nach seinen Wünschen drehen zu können. Zunächst sollte der Film nur 10 Minuten lang sein. Erst mithilfe einer Filmförderung des Britischen Filminstituts und zusammen mit einem erfahrenen Produzenten konnte Fingleton das Script schließlich auf 20 Minuten ausweiten.

Dass SLR auch in dieser Länge funktioniert, ist nicht nur den überzeugenden Schauspielern zu verdanken. Der Kurzfilm nimmt sich wie ein guter Thriller die Zeit, die innere Zerrissenheit seines Protagonisten herauszuarbeiten. Er erzählt dabei aber nicht die klassische Geschichte einer Läuterung: Fingleton weiß, dass sich sexuelle Vorlieben nicht einfach abstellen und unterdrücken lassen. In einer bemerkenswerten Szene zum Schluss blicken die Zuschauer – in dieser Situation gewisser Weise selbst Voyeure – dem Protagonisten ins Gesicht. Und fragen sich, ob er die Grenzen wirklich neu gezogen hat.

 

Netzfilm der Woche: „43.000 Feet“

Manchmal muss man die wirklich wichtigen Fragen stellen. Etwa, was einem durch den Kopf geht, wenn man aus einer Höhe von 43.000 Fuß ohne Fallschirm Richtung Erde rauscht. Denkt man an die Familie, die Freunde, das etwas zu hart gekochte Ei beim Frühstück? Zischt das gesamte Leben noch einmal vorbei wie in schlechten Filmen?

Alles Quatsch, weiß der Erzähler im Kurzfilm 43.000 Feet. Das Einzige, über das man nachdenkt, ist wie man am besten aufkommen sollte – nämlich mit den Füßen zuerst. Und sollte man den Aufprall tatsächlich überleben, sind nur zwei Dinge sicher: Es wird wehtun. Und die Zeitungen schreiben über dich.

Das klingt alles ziemlich morbide. Ist es aber gar nicht. Der neuseeländische Filmemacher Campbell Hooper hat sich für 43.000 Feet nämlich etwas ausgedacht. Da wäre etwa der Protagonist, der Statistiker John Wilkins. Der ist nicht nur ein analytischer Beobachter, wie es sein Job eben erfordert. Er ist auch ein herrlich trockener Erzähler. Nüchtern doziert er von seinem unfreiwilligen Flug, der präzise drei Minuten und 48 Sekunden dauert. Überraschend, wie viel er in dieser Zeit zu berichten hat.

Womit wir bei der zweiten Besonderheit wären: 43.000 Feet lebt von der kreativen Umsetzung. Die Live-Action wird durchbrochen von sich wiederholenden Szenen, von Statistiken, Bildern aus Anatomiebüchern und Comic-Sequenzen. Was zunächst anstrengend klingt, hält die Erzählung des Protagonisten zusammen: Plötzlich befindet sich der Zuschauer nicht bloß im Flug mit ihm, sondern in seiner Kindheit, bei seiner Bucketlist und einem Obdachlosen, der keine Zeitmaschine bauen kann. Klingt komisch? Nein, klingt sehenswert.

 

Netzfilm der Woche: „Elefante“

Nur zu gerne wäre der Protagonist in Pablo Lacuerns Kurzfilm Elefante jemand anderes: immer der gleiche Job, immer die gleiche Routine, immer die gleiche Frau. Der Sohn ist noch zu klein, die pubertierende Tochter abweisend, der einzige Freund eigentlich ein Depp. Doch als das Schicksal den Mann in einen Elefanten verwandelt, merkt er, dass er sein Leben lang die falschen Prioritäten gesetzt hat.

Die Idee für Elefante kam Pablo Lacuern eines Abends in einer Bar. Er sah sich um und erblickte Menschen, die zwar zusammensaßen, aber doch alleine schienen. Aus der spontanen Zeichnung eines Elefanten inmitten von Menschen entstand ein Kurzfilm, der bereits kurz nach seinem Erscheinen einen Preis auf dem katalanischen Filmfestival Sitges gewann und danach auch international erfolgreich auf Festivals lief.

Was Lacuern brillant gelingt, ist der Wechsel von einer skurril-humorvollen zu einer bewegenden Geschichte. Elefante beginnt wie ein klassischer Kurzfilm: Schnelle Erzählung, harte Schnitte. Wir lernen den Protagonist als Loser kennen, isoliert von seiner Familie. Dann folgt die Diagnose des Arztes: Elefantentum. Ab diesem Moment ändert sich die Atmosphäre. Zwar bleibt die Absurdität der Geschichte ihr Vehikel, doch der Protagonist verändert sich nicht nur äußerlich. Erst jetzt, da er ausgegrenzt ist, weiß er, was er all die Jahre wirklich vermisst hat.

 

Netzfilm der Woche: „The Poodle Trainer“

Wenn es um interessante Menschen für eine Kurzdokumentation geht, ist Irina Markova eine gute Wahl. Die gebürtige Russin ist charismatisch, redselig, etwas skurril und hat vor allem immer tierische Begleitung um sich: große Pudel, kleine Pudel, verkleidete Pudel, Hauptsache Pudel. Markova ist Tiertrainerin und Zirkusartistin – die Pudel sind ihre Spezialität.

Der Filmemacher Vance Malone lernte Markova zufällig nach einem Auftritt in Kalifornien kennen. Er begleitete sie anschließend in den Mittleren Westen und drehte an fünf Tagen das Porträt The Poodle Trainer. Ein Film über „Schicksal, Leidenschaft und Verlust“, wie ihn Malone bezeichnet.

Wie in vielen guten Kurzdokus geht es auch in The Poodle Trainer nicht bloß um die Geschichte, die man sieht. Es geht um die Dinge, die nicht erzählt werden, um die Leerstellen und die Zwischentöne. Wenn Markova von ihrer Kindheit spricht, in der ihre Mutter ihren ersten Hund wieder weggab, dann schwingt in ihren Worten ein Schmerz mit, den sie offenbar bis heute nicht überwinden konnte. Und hinter dem Make-Up, den bunten Kostümen und dem Leben im Wohnwagen sehen die Zuschauer den harten Alltag einer Zirkusartistin.

Malone gelingt es in acht Minuten, abwechselnd sowohl die Leidenschaft als auch die Traurigkeit der Protagonistin vorzustellen. Ein exzellenter Soundtrack, der zwischen gefühlvollen Klavierklängen und heiteren Zirkustönen pendelt, tut sein Übriges für dieses nachdenkliche Porträt.

 

Netzfilm der Woche: „Auf dem Land“

Ein türkischstämmiger Jugendlicher aus der Großstadt landet auf einem Bauernhof in der brandenburgischen Pampa. In Dennis Schanz‘ Kurzfilm Auf dem Land geht es aber gar nicht um den Konflikt zwischen dörflicher Tugend und städtischer Jugend. Sondern vielmehr um eine allgemeine jugendliche Orientierungslosigkeit, um Ausgrenzung und das drohende Erwachsenwerden.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht der 14-jährige Volkan. Er wird vom Jugendamt den Sommer über aufs Land geschickt. Dort soll er nicht nur schuften, sondern auch auf andere Gedanken kommen und Abstand gewinnen von einem offensichtlich problematischen Alltag in der Stadt. Was genau Volkan angestellt hat, bleibt – wie vieles andere – unerwähnt. Auf dem Land ist ein Kurzfilm ohne viel Handlung und Dialoge. Er zieht seine Stärke aus den Stimmungen und Zwischentönen, die in den knapp 15 Minuten immer wieder wechseln.

„Die kleinen persönlichen Fragen interessieren mich mehr als die großen, politischen“, sagt der Regisseur , „deshalb durchlebt unser Protagonist die unterschiedlichsten Emotionen und Verhaltensweisen.“ Die Zuschauer begegnen distanzierten Bauern, vergeblich bemühten Streetworkern und Jugendlichen, die Volkan kritisch beäugen. Je länger der Tag dauert, desto frustrierter wird der Junge, bis sich die Spannung in einer überraschenden wie schockierenden Szene entlädt und er sich plötzlich mit sich selbst auseinandersetzen muss.

Das Ende von Auf dem Land hat Schanz dabei bewusst offen gehalten, um nicht belehrend daherzukommen. „Ich hoffe stattdessen, dass sich der Zuschauer für ein paar Minuten dem Jungen nahe fühlt und mit ihm auf die Reise geht“, sagt Schanz.