Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Wikipedia: Über Israel und Hitler streitet man überall

 

Konfliktthemen in der deutschsprachigen Wikipedia, Quelle: Mark Graham, Oxford Internet Institute
Konfliktthemen in der deutschsprachigen Wikipedia, Quelle: Mark Graham, Oxford Internet Institute

Die Wikipedia ist nicht nur eine Enzyklopädie. Sie ist auch ein soziales Experiment. Da sie dank der Zusammenarbeit vieler Menschen entsteht, bietet sie tiefe Einblicke, wer sich wo und wie stark für ein Thema interessiert. Sie ist ein riesiges Testfeld dafür, wie und worüber Menschen miteinander streiten, wie sie sich einigen und wie sie sich organisieren, um zusammenarbeiten zu können.

Mehrere Wissenschaftler haben genau das untersucht. Taha Yasseri, Anselm Spoerri, Mark Graham und János Kertész beobachteten für ihre Studie sogenannte Edit-Wars, Bearbeitungskriege, bei denen streitende Nutzer die Änderungen der Gegenseite immer wieder umschreiben oder gleich komplett rückgängig machen. Sie wollten wissen, ob es regionale Besonderheiten dabei gibt und was diese Debatten über die Menschen aussagen.

Sie taten das nicht nur, um etwas über Streits bei der Wikipedia zu erfahren, sondern auch um die Streitkultur an sich zu erforschen. Dass Religion und Philosophie die am stärksten debattierten Themen sind, wird niemanden verwundern, aber die Analyse lässt sich noch viel weiter treiben. Schon vorangegangene Untersuchungen haben einen Zusammenhang zwischen der Härte von Wikipedia-Debatten und der politischen und wirtschaftlichen Stabilität eines Landes gezeigt.

Was führt zur Eskalation, welche Verfahren fördern einen Konsens, wie organisieren sich die Gegner? All das könne man anhand von Wikipedia-Daten erforschen, schreiben Yasseri, Spoerri, Graham und Kertész in ihrer Studie, die 2014 in einem Buch erscheinen soll.

Die Daten dafür liefert die Wikipedia. In ihr wird jede Änderung an einem Text gespeichert und ist noch nach Jahren nachvollziehbar. Dabei bleiben auch die Namen der Autoren, beziehungsweise die IP-Adressen der anonymen Bearbeiter erhalten. Dank ihnen kann darauf geschlossen werden, woher sie kamen. Yasseri, Spoerri, Graham und Kertész haben sich dabei aber nicht nur auf die englische Wikipedia-Version gestützt, wie viele andere vor ihnen, sie haben diverse Sprachvarianten untersucht.

Zuerst suchten die Autoren dazu in verschiedenen Sprachversionen nach den kontroversesten Texten. Sie maßen dabei nur, wenn eine Änderung vom nächsten Autor komplett rückgängig gemacht wurde. Je mehr solcher reverts ein Text hatte, desto höher wurde er eingestuft. Als Basis dienten Daten, die bis zum März 2010 gesammelt worden waren.

So ergaben sich für zehn Sprachversionen die zehn umkämpftesten Texte. In Deutschland waren das beispielsweise die Texte über Kroatien und über Scientology, in den USA die über George W. Bush und Anarchismus, in Frankreich die über Sègoléne Royal und UFOs. Die ganze Liste dieses „WikiWarMonitors“ gibt es hier.

Zankthema Google

Anschließend suchten sie nach den Themen, die in verschiedenen Sprachversionen kontrovers behandelt werden. Dabei fassten sie jeweils mehrere Sprachen zu einer Gruppe zusammen. So ergab sich, dass in der Sprachgruppe Englisch/Deutsch/Französisch/Spanisch die Texte über Jesus und über Homöopathie die in allen vier Sprachen umstrittensten waren. In drei der vier Sprachen umkämpft waren demnach Anarchie, Sozialismus, Klimaerwärmung und Zeugen Jehovas. In der Gruppe Ungarisch/Rumänisch/Tschechisch war der Text über Google die Hauptkampfzone und in der Gruppe Farsi/Arabisch/Hebräisch der über den Gaza-Krieg.

Und werden alle drei Sprachgruppen übereinander gelegt, zeigt sich, dass nur die Texte über Israel und über Adolf Hitler in allen dreien heftig debattiert werden. Eine interaktive Grafik dieser sprachlichen Überschneidungen ist hier zu sehen.

Werden alle Kontroversen nach Themen sortiert, zeigt sich, dass nicht etwa Religion, Philosophie oder Sex die größten Aufregerthemen waren. Es war vielmehr das Cluster „Politik, Politiker, politische Parteien, Bewegungen und Ideologien“.

Auffällig sind einige regionale Unterschiede. In Arabisch und Hebräisch werden mehr als in anderen Sprachen Religion und Politik debattiert, auf Portugiesisch und Spanisch gibt es die meisten Kämpfe um Fußballklubs, in der französischen und in der tschechischen Wikipedia streiten Nutzer am liebsten über Wissenschaft und Technik, in der chinesischen und japanischen hingegen vor allem über Manga, Fernsehserien und Stars.

Was belegt das nun? Zuerst einmal, dass es keine leichte Aufgabe ist, wenn sich mehr als 40 Millionen Menschen weltweit koordinieren, um gemeinsam etwas zu schaffen. Konflikte sind dabei die Regel, nicht die Ausnahme.

Vor allem aber zeigt die Studie, dass Debatten abhängig von Sprache und Region sind. Bei der Analyse der einzelnen Regionen beobachteten die Wissenschaftler ein Phänomen: Je kleiner die Sprachversionen, desto stärker sind die Debatten darin auf nur sie selbst betreffende Themen fokussiert und umso heftiger wird dann um diese gestritten. Je größer die Versionen, wie beispielsweise die deutsche, vor allem aber die englische, desto schwächer die Konflikte – auch wenn das den Beteiligten nicht so erscheinen mag.

Eine mögliche Deutung wäre, dass kulturelle Vielfalt hilft, Konflikte zu überwinden.

Zur Information: ZEIT ONLINE und das Oxford Internet Institute kooperieren beim Thema Datenanalyse und Datenvisualisierung.