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1.000 Milliarden für den Osten

 

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 3. September Sachsen besucht und dabei mit Lob nicht gespart. Vor allem lobte der Bundespräsident vor dem Diplomatischen Korps, das er aus Berlin mit an die Elbe nach Dresden gebracht hatte, den Aufbaugeist und die Aufbauleistung der Sachsen in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten. Wäre Ostdeutschland, so schmeichelte Gauck seinen Gastgebern, nicht 40 Jahre lang von kommunistischer Zwangsherrschaft regiert worden, hätte Sachsen wohl jetzt den Entwicklungsstand Baden-Württembergs. Also in wirtschaftlicher Hinsicht.

Gleiches war am selben Tag aus Thüringen zu vernehmen. Dort nannte Wirtschaftsminister Matthias Machnig (SPD) den „Aufbau Ost“ eine Erfolgsgeschichte. Doch Machnig wäre nicht der besorgte Lenker und Steuermann, als der er sich sieht, wenn er nicht Wermut in den Lobesbecher geträufelt hätte. Die wirtschaftliche Angleichung des Ostens an den Westen stagniere seit einigen Jahren, sagte er dem Handelsblatt. Der „traditionelle Aufbau Ost“ habe sich offenbar als wirtschaftlicher Impulsgeber erschöpft.

Diesen Schluss zieht Machnig aus einer Studie der Unternehmensberatung Roland Berger, die sein Ministerium – also er – in Auftrag gegeben hat. Die Berater attestieren der ostdeutschen Wirtschaft eine erhebliche Kapitallücke im Vergleich zum Westen. Und damit der Osten wirtschaftlich mit dem Westen gleichziehen könne, brauche er bis zum Jahr 2030 Investitionen von mehr als einer Billion Euro.

Das ist ein ordentlicher Haufen Geld. Auch Machnig ist das bewusst. Doch: Die ostdeutschen Länder sollten sich nicht scheuen, dieses Geld beim Bund und den westdeutschen Ländern einzufordern, rät er. Investieren im Osten, das rechne sich schließlich auch für den Westen. Hm, als Wahlkämpfer für die nächste Bundestagswahl hat sich der einstige Kampa-Chef der SPD damit wohl nicht gerade empfohlen. Schließlich finden Hilfsprogramme für Ostdeutschland an Rhein und Ruhr derzeit wenig offene Ohren. Allzu beredt ist die Klage von westdeutschen Bürgermeistern über Schlaglöcher in Straßen, die wegen Solidarpakt und Aufbau Ost nicht geflickt werden könnten. Und so ließ Machnig noch seinen Sprecher nachschieben, finanzielle Forderungen an die öffentliche Hand stünden nicht im Vordergrund, sondern vor allem Investitionen aus privaten Mitteln.

Die Frage ist: Was taugen diese Investitionen als wirtschaftlicher Impulsgeber, wenn der „Aufbau Ost“ westdeutsche Unternehmen nicht mehr hinter dem Ofen vorlockt? Eine Antwort gibt justament der Stuttgarter Buchgroßhändler KNV, der seine Logistikaktivitäten komplett aus dem Westen in den Osten, nach Erfurt verlagert. 150 Millionen Euro investiert das Unternehmen nach Angaben seines Vorstandschefs Oliver Voerster in ein neues Logistikzentrum in Erfurt, in dem 1.000 Arbeitsplätze entstehen sollen. Die Versandzentren in Stuttgart und Köln mit zusammen 1.500 Arbeitsplätzen werden geschlossen. Den Beschäftigten dort werde ein Umzug nach Erfurt angeboten, sagt Voerster. Dass die Betroffenen dieses Angebot annehmen werden, kann wohl bezweifelt werden. Denn sie müssten wohl mit etwas weniger Gehalt auskommen. Und da hätten wir dann auch schon den neuen wirtschaftlichen Impulsgeber: Niedrigere Lohnkosten. So etwas lockt den Unternehmer in den Osten. Das nennt man dann Standortvorteil.