Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Such den Jammer-Ossi!

 

Wie denken die Menschen in Ostdeutschland eigentlich über sich und wie über ihre Brüder und Schwestern im Westen? Dieser Frage ist das Institut für Demoskopie in Allensbach kürzlich im Auftrag der Hochschul-Initiative Neue Bundesländer nachgegangen.

Befragt wurden rund 1.600 Personen. Und als hätten wir es nicht schon geahnt: Ost- und Westdeutsche haben nicht die beste Meinung vom jeweils anderen Teil der Bevölkerung. Der Wessi ist in den Augen des Ossis vor allem arrogant, geldgierig, selbstbewusst und bürokratisch. Der Ossi wiederum ist nach Ansicht des Wessis vor allem unzufrieden, misstrauisch und ängstlich.

Wie gut, dass wenigstens das Selbstbild einigermaßen positiv ist. Der Ostdeutsche hält sich laut dieser Studie für bescheiden, zurückhaltend, erfinderisch und hilfsbereit. Der Westdeutsche, schon etwas selbstkritischer, schreibt sich vor allem Selbstbewusstsein und Ehrgeiz als positive Eigenschaften zu, hält sich allerdings auch ein wenig für arrogant und bürokratisch.

Soweit die Ergebnisse. Kommen wir nun zu den Erklärungsversuchen. Allensbach-Projektleiter Thomas Petersen sieht die Ursachen der doch recht unterschiedlichen Selbstwahrnehmungen von Ost- und Westdeutschen im Kalten Krieg. Während die Ostdeutschen in der DDR in einer Gesellschaft lebten, in der die Überlegenheit gegenüber dem kranken kapitalistischen System im Westen propagiert wurde, die sozialistischen Bürger mithin also die besseren Menschen waren, waren die Westdeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem mit Selbstgeißelung wegen der Schuldfrage beschäftigt, sagt Petersen sinngemäß der Mitteldeutschen Zeitung. Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht formulierte in der Welt am Sonntag ähnlich: „Die ständige Selbsthinterfragung, der intensive Diskurs gehörte im Westen zur Kultur. Aus einer Diktatur kommend kennt man das so nicht.“

Was soll man nun davon halten? Wie schafft es der Westdeutsche, arrogant und selbstbewusst zu werden, wenn er sich doch dauernd selbst in Frage stellt? Müssten nicht eher die Wessis ängstliche und unzufriedene Menschen sein? Und wie wird aus einem ehemaligen DDR-Bürger, der in einer – jedenfalls aus marxistischer Sicht – besseren, überlegeneren Gesellschaft aufgewachsen ist, dann ein ängstliches und unzufriedenes Wesen?

Vielleicht deshalb, weil die Bilder, die wir von unseren Mitmenschen jenseits der ehemaligen innerdeutschen Grenze haben, eher das Ergebnis der letzten zwei Jahrzehnte sind. Vielleicht gelten Westdeutsche im Osten deshalb arrogant, weil so mancher „Entwicklungshelfer“, der am „Aufbau Ost“ mitgewirkt hat, dies mit der Botschaft an die Ostdeutschen verbunden hat: Jetzt zeigen wir Euch Versagern mal, wie man es richtig macht und wie das mit der Freiheit und der Demokratie und der Marktwirtschaft funktioniert. Und vielleicht gelten Ostdeutsche im Westen als unzufrieden und ängstlich, weil sie lieber darauf warten, dass ihnen der Staat oder wer auch immer Arbeit oder irgendwie geartete Hilfe gibt, anstatt ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen?

Vielleicht aber stimmen all diese Bilder gar nicht mit der Realität überein und sind nur sorgfältig gepflegte Klischees. Denn erstaunlicherweise, auf diese Zahlen verweist Allensbach-Projektleiter Petersen in der MZ, sind 79 Prozent der Westdeutschen noch nie einem „Jammer-Ossi“ begegnet und nur 16 Prozent der Ostdeutschen bisher einem „Besser-Wessi“. Vielleicht nehmen wir uns für das Jahr 2013 alle mal eine Reise in den anderen Landesteil vor und suchen da diese beiden Typen. Wer einen findet, kriegt ne Mark aus dem Solidarpakt-Topf.