Es passiert nicht allzu oft, dass ich mich in der Redaktion umdrehe, um sicher zu gehen, dass auch ich gemeint bin, dass ich gerade eben angesprochen wurde, dass gerade eben meine Fachmeinung gefragt war. In dem Augenblick, wo dieser Umdreh-Reflex einsetzt, schäme ich mich auch sofort. Aber ich kriege ihn einfach nicht weg. Schon beim Umdrehen weiß ich: ‚Ja, die meinten das jetzt ernst. Ich bin gefragt. Die Kollegen wollen eine Ost-Expertise. Eine Betroffenen-Meinung. Das Echte. Sie wollen den Ossi hören. Jetzt soll der Zoni sprechen.‘
Das Schlimme ist nicht so sehr, dass ich gefragt werde. Es ist wohl eher normal. Das Schlimme ist, dass ich überlegen muss, was ich erzähle. Wenn ich das sage, was mir einfällt und mir 22 Jahre nach der Wende als richtig und wahr erscheint, sorge ich im besten Fall für Lacher, für komische Grimassen oder Kopfschütteln. Ich stelle mir dann vor, wie die Kollegen innerlich die Augen verdrehen und sich denken: Das habe ich in der Anthologie (meine Kollegen lesen wirklich Anthologien) aber anders gelesen.
Und wenn ich mich langhangle an den Ost-Erinnungen, wie sie sein müssen, wie sie in vielen mehrfach wiederholten MDR-Dokumentationen erzählt werden, dann verstricke ich mich in Widersprüche: War ich wirklich immer nackig baden? Hatte ich wirklich immerzu das FDJ-Hemd an? Habe ich wirklich so oft nach irgendetwas angestanden? Und vor allem: Warum sollte es überhaupt jemanden interessieren, was ich anhatte oder worauf ich Hunger hatte?
Neulich kam die Rede auf Denkmäler, besser gesagt, es wurde über Bauwerke gesprochen. Und natürlich steht für die Kollegen fest, dass ich den Berliner Schlossneubau doof finde und den Palast der Republik gut fand, dass ich – genau wie sie neulich mit ihrem Besuch aus Niedersachsen – Marx und Engels an ihrem alten Platz im Marx-Engels-Forum sehen will und dass ich es schlimm und geschichtsvergessen finde, dass die späten Ost-Neubauten in der Wilhelmstraße weg sollen.
Ich habe in etwa gesagt: „Naja, die Dinger sehn wirklich ganz schön kacke aus!“ Und als der Satz draußen war, fand ich mich doof. Ich hatte Verrat begangen. Und ich stellte mich auf einen Stufe mit … ja, mit Investoren, für die nichts heilig ist. Jedenfalls hatte ich, glaube ich, die Kollegen enttäuscht und als echter Zoni versagt. Und dann klapperten die Tastaturen weiter und bei der nächsten Wortmeldung wurde dann aus irgendeinem nicht erklärlichen Grund über Atomkraft diskutiert. Ich war wieder allein mit meiner Vergangenheit. Und so ganz allein schämte ich mich dann auch nicht, zuzugeben, dass bei meiner Äußerung der zweite Teil noch gefehlt hatte: ‚Naja, die Dinger sehn wirklich ganz schön kacke aus! Aber sie sind da, und solln nich weg. Finanzministerium, die Ost-Neubauten in der Wilhelmstraße, Sony Center – in zehn Minuten 70 Jahre Berlin.“
In der Märkischen Allgemeinen stand neulich: „Guben streitet um Wilhelm-Pieck-Denkmal“. Und obwohl ich noch nie in Guben war, wollte ich wissen, was da los ist.
Natürlich kamen gleich im ersten Satz des Artikels die Pioniere vor, die Werktätigen und die Aufmärsche. Es geht in dem Streit darum, ob das Denkmal saniert oder überhaupt erhalten wird. Die CDU argumentiert mit den Schulden der Stadt und sagt: Weg damit. Die SPD sieht es zumindest offiziell genauso, nur die Linke sieht es anders.
Entscheidend ist dabei das Argument der Linken: „Pieck ist Teil der Geschichte. Abrisse machen uns geschichtslos.“ Die sagen nicht: „Finger weg von unsern Pieck!“ sondern eher: „Lasst das Ding stehen, dann kann man am besten sehen, wie blöd der Osten war.“ Jeder kann an dem Denkmal bestens erkennen, wie ungelenk diese Möchte-Gern-Verehrung daherkam.
Niemand will Pieck zurück, keiner legt dort mehr Blumen nieder oder steht stundenlang davor und träumt vom Sozialismus. Und natürlich hängt die Erinnerung über den Osten nicht an diesem Denkmal oder an einem Neubaublock in der Berliner Wilhelmstraße. Aber wenn solche Dinge verschwinden, dann bleiben vom Osten: die Ostpro („Schmeckt doch… das meiste jedenfalls.“), Frank Schöbel („Singen kann er aber auch wirklich.“) und der Grüne Pfeil („Das spart wirklich Zeit, das sagen alle.“).
Allerdings: Wenn ich beim nächsten Redaktionsgespräch mit meiner Ost-Expertise gefragt bin, bin ich der erste, der den Betonklotz in Guben „bedrückend“ findet. Und ich werde mit den Schultern zucken, wenn sie sich über den möglichen Abriss empören. Ich weiß auch nicht warum.