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Vom Leben und Überleben

 

„Ach, wer kann das schon so genau sagen?“ – Das ist ein Satz einer älteren Nachbarin von mir, einer Rentnerin. Sie hatte eine Krankheit, wurde behandelt, kam wieder nach Hause und schien gesund. Aber sie ging nicht mehr in den Park oder zu ihren Verwandten, nur noch in den nächsten Discounter zum Einkauf.

– „Und wie geht’s?“
– „Och, naja, nich so.“
– „Na, was sagen denn die Ärzte, das wird doch bestimmt wieder, oder?“
– „Ach, wer kann das schon so genau sagen?“

Seit einigen Tagen habe ich die Kopie eines Zeitungsartikels auf meinem Tisch: „Den Osten als eigene Welt gibt es nicht mehr“. Der Artikel, ein Interview aus der Märkischen Oderzeitung, ist ein dicker Fünfspalter mit dem Bild eines Wissenschaftlers in der Mitte: ein Mann mit verschränkten Armen auf der Kante seines Schreibtischs und vor einem Bücherregal sitzend. Er hat dabei den Mund halboffen. Das Foto vermittelt den Eindruck, dass hier gerade jemand eine Wahrheit verkündet, oder sagen wir: zumindest eine wichtige Erkenntnis. Und beim zweiten hinsehen wird einem klar, was der da gerade verkündet hat. – Genau, er hat gerade den Satz der Überschrift herausposaunt und dabei seine Arme verschränkt, um zu zeigen: So, ich wette, Sie können das Gegenteil nie beweisen.

Stimmt, kann ich nicht!

Allerdings erklärt der Soziologe Heinz Bude mit seinem Satz „Den Osten als eigene Welt gibt es nicht mehr“ auch einen Zustand für beendet, den es nie gegeben hat. Bude erzählt von seinen soziologischen Untersuchungen und Befragungen in einer Brandenburger Kleinstadt zwanzig Jahre nach der Wende: „Wir haben in Wittenberge erlebt, dass es mit dem hoch gelobten ostdeutschen Wir-Gefühl nicht weit her ist.“

„Hoch gelobtes ostdeutsches Wir-Gefühl“ – was soll das sein? Wer soll das hoch gelobt haben und vor allem: wie soll dieses „Wir“ ausgesehen haben? – Das „Wir“ der Ostler ist kein Gefühl und war es auch nie. Es ist ein Reflex, eine Art Notreaktion auf das ständige: „Ihr da drüben“ oder „Ihr von da“.

In Leipzig, wo ich lange wohnte, war ich der Berliner. Für die Kollegin aus Hamburg und den Kollegen aus dem Ruhrgebiet waren die Leipziger und Magdeburger und Berliner die „Ossis“. Die Ostler hatten vor ihrer Zusammenarbeit in diesem Büro völlig verschiedene Biografien, verschiedene Berufe und verschiedene Autos; die einen hatten eine Abneigung gegen Sport, die anderen waren begeisterte Anhänger einer Fußballmannschaft, bestimmter Reiseziele oder einer Kuchensorte. Aber wenn es um Nachrichten über komische Ostprodukte, Pleiten, Stasi-Enthüllungen über Prominente und Doping-Geständnisse ostdeutscher Sportler ging, waren diese Ostler plötzlich Spezialisten mit der gleichen Expertise: „Frag doch mal die Ossis!“

Grundsätzlich gilt: Ja, der Soziologe Heinz Bude und seine Kollegen leisten eine gute Arbeit mit ihrem Projekt und sie gehen dabei tiefer als diese fragwürdigen Ihr/Wir- oder Ossi/Wessi-Kategorien zu untersuchen. Aber es ist komisch, was davon hängen bleibt oder was bei den Menschen ankommt als Erkenntnis aus dieser wissenschaftlichen Arbeit: offenbar eher ein großes Missverständnis. Denn: In der MOZ heißt das Wittenberger Forschungsprojekt „ÜBERLEBEN im Umbruch“ der eigentliche Titel allerdings lautet „Über Leben im Umbruch“.

Vielleicht ist dieser Fehler auch wirklich nur ein Schreibfehler. Wahrscheinlicher aber ist, dass der Redakteur den Titel des Projekts so verstehen wollte, wie er ihn abgedruckt hat. Und entsprechend genau dieser Erwartung ist auch die Essenz der Berichterstattung, fernab der Arbeit Heinz Budes und seiner Kollegen.

„Den Osten als eigene Welt gibt es nicht mehr.“ Dieser Satz Heinz Budes mag stimmen, wenn der Westen den Osten nicht länger als eine „eigene“ Welt betrachtet. Und vor allem dann, wenn Wissenschaflter dort das Leben beobachten und erforschen. Aber nicht, wenn Westler im Osten das Überleben entdecken.