Noch ist kein ganzer Tag seit dem De-facto-Putsch der ägyptischen Armee vergangen. Schon laufen erste Meldungen ein, laut denen Anhänger des abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi von den Muslimbrüdern gewaltsame Demonstrationen starten. Auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel sollen derweil mutmaßlich Al-Kaida-nahe Dschihadisten einen Anschlag auf ägyptische Sicherheitskräfte verübt haben.
Mit beidem musste gerechnet werden – als mehr oder weniger unmittelbare Reaktion auf Mursis erzwungenen Abgang. Aber es geht um mehr. Es geht nämlich auch um die Frage, was die aktuellen Entwicklungen für die Ideologie, Motivation und Propaganda von Al-Kaida bedeuten.
Al-Kaida und die Muslimbrüder teilen ideologische Wurzeln, aber sie sind keine Verbündeten. Im Gegenteil, sie stehen quasi sinnbildlich für die Spaltung der islamistischen Bewegung in einen (vornehmlich) politisch-aktivistischen Zweig auf der einen und einen militant-dschihadistischen auf der anderen Seite. Aber sie sind trotzdem kommunizierende Gefäße und beeinflussen einander.
Als der Arabische Frühling losbrach und Tunesier wie Ägypter ihre säkularen Despoten verjagten, bedeutet das für Al-Kaida einen ideologischen Rückschlag: Das Terrornetzwerk hatte stets behauptet, seine Anhänger würden es dereinst sein, denen die Massen auf die Straßen folgen würden, um die gottlosen Herrscher zu stürzen. Stattdessen gelang dies den liberalen, säkularen Kräften im Verbund mit dem Bürgertum.
In der zweiten Phase gewann Al-Kaida wieder an Boden – weil sich aufgrund der chaotischen Lage in den Revolte-Staaten neue Operationsmöglichkeiten ergaben. In Libyen bildeten sich Dschihadisten-Verbände, in Syrien mit Jabhat al-Nusra gar eine inoffizielle Al-Kaida-Filiale von erheblicher Schlagkraft; die Folgen wird der Nahe Osten auf Jahre hinaus in Form von Anschlägen zu spüren bekommen. Das glich den ideologischen Rückschlag zwar nicht ganz, aber zum Teil aus.
Der Coup in Ägypten aber verändert nun erneut die Gleichung. Denn die Muslimbrüder fühlen sich – und das ist nachvollziehbar – um die Macht gebracht: Schließlich war Mursi vor einem Jahr demokratisch gewählt worden. Das wird die Anhänger der Bewegung frustrieren, und nicht wenige radikalisieren.
Davon wird Al-Kaida nun profitieren, das ist so gut wie sicher. Für den Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri ist das ein regelrechter Elfmeter. Denn er kann nun behaupten, dass sich die angebliche Demokratie, die die Ägypter sich erkämpft haben, nicht lohnt; dass „wahre Gläubige“ (sprich: Islamisten) immer unterdrückt werden, selbst wenn sie durch Wahlen an die Macht kamen; dass Al-Kaida genau das immer schon gesagt hat; und dass am Ende sowieso die USA hinter dem Putsch gestanden haben müssen.
Noch wichtiger aber dürfte für Al-Kaida sein, dass die neue Konstellation wieder der gewohnten, alten entspricht: Säkulare „unterdrücken“ die Gläubigen. Das Narrativ von früher, es stimmt wieder.
Der Al-Kaida-Führer al-Sawahiri hat sich zuletzt schon länger nicht mehr zu Wort gemeldet. Wenn er dazu technisch und logistisch in der Lage ist, wird er gewiss bald die neue Lage in Ägypten, seinem Heimatland, thematisieren. Dort kennt er sich aus; als Extremist saß er dort im Gefängnis. Er mag die Muslimbrüder vielleicht nicht besonders – aber die Armee und die Polizei und das säkular-nationalistische Establishment hasst er. Gepaart mit der nach wie vor bestehenden neuen operativen Freiheit, insbesondere auf dem Sinai, könnte das zu Anschlagsversuchen in Ägypten führen.
Es ist nie schön, ein Schreckensszenario an die Wand zu malen, aber dieses ist plausibel. Der US-amerikanische Terrorexperte William McCants schrieb gestern auf Twitter nicht ohne Grund: „Irgendwo in Pakistan lächelt gerade Sawahiri. Der Al-Kaida-Spin wird so gehen: Die Muslimbrüder sind diskreditiert, weil sie sich an die Regeln hielten. Sawahiri hat seit zwei Jahren argumentiert, dass der Westen und die lokalen Eliten die Islamisten nicht regieren lassen werden. Dieses Argument hat jetzt unter Islamisten mehr Gewicht.“ (Übersetzung und Glättung von mir.)
Diese Konstellation macht klar, warum es jetzt eine denkbar schlechte Idee ist, die Muslimbrüder noch weiter zu demütigen. Dass gestern die neuen Herrscher offenbar bereits mehrere islamistische TV-Sender abschalten ließen, ist kein gutes Zeichen.
Immerhin gibt es aber auch Anzeichen dafür, dass viele Ägypter Vertrauen haben, dass das Land sich rasch stabilisiert. Der Kollege Mohamed Amjahid, derzeit für die ZEIT in Kairo, berichtet gerade, dass die Börse geschlossen werden musste, weil der Index durch die Decke gehe – anscheinend gibt es einen Ansturm auf ägyptische Aktien.
So oder so: Je schneller das Land einen politisch breiten Kompromiss findet, desto schwieriger wird es für Al-Kaida, die Entwicklungen auszubeuten. Im Moment haben es die Dschihadisten aber erst einmal einfacher als zuvor.