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Wie starb Osama Bin Laden wirklich?

 

Seymour Hersh ist eine Legende, und das zu Recht. Er hat das 1969 von US-Soldaten verübte Massaker in der vietnamesischen Ortschaft My Lai enthüllt; er hat 2004 maßgeblich an der Aufdeckung des Folterskandals von Abu Ghraib im Irak mitgewirkt. Das sind Verdienste, die ihm niemand nehmen kann. Das ist mehr, als die allermeisten Reporter in einem Leben leisten.

Das heißt aber nicht, dass jeder Artikel von Seymour Hersh zu Buchstaben geronnene Wahrheit ist. Im Gegenteil, in den letzten paar Jahren hat er einige eher krude und auch nicht besonders gut belegte Verschwörungen offenzulegen versucht. Seine Behauptung etwa, dass ein großer Teil der US-Spezialkräfte vom Opus Dei gesteuert würde… Na ja.

Am Sonntag nun hat Hersh mal wieder eine Bombe gezündet: 10.000 Worte umfasst sein Artikel im London Review of Book, darin behauptet die Journalistenlegende nicht weniger, als dass ungefähr alles gelogen war, was wir bisher über die Tötung Osama bin Ladens, den Weg dorthin und die genauen Umstände gehört haben.

Ich liste hier nur die wichtigsten Punkte auf:

  • Bin Laden wurde nicht gefunden, weil die CIA dessen Kuriernetzwerk auf den Spuren war, sondern weil ein pakistanischer Geheimdienstüberläufer sich bei den USA gemeldet hat. Der Mann sei nun Berater bei der CIA.
  • Der Unterschlupf in Abbottabad sei, das ist dann nur folgerichtig, auch kein Versteck, sondern eher ein Gefängnis gewesen: Seit 2006 habe der pakistanische Geheimdienst ISI Osama bin Laden dort unter Kontrolle gehalten.
  • Die Saudis wiederum hätten das Ganze finanziert.
  • 2010 seien die Pakistaner dann bereit gewesen, bin Laden an die USA gewissermaßen zu verkaufen: Im Gegenzug für Militärhilfe und eine „freiere Hand“ in Afghanistan. Sie waren Hersh zufolge an der Operation beteiligt, ein ISI-Mann sei sogar in einem der Einsatz-Helikopter mitgeflogen. Es habe sich also nicht um eine einseitige US-Operation ohne Kenntnis Pakistans gehandelt.
  • In dem Unterschlupf selbst sei Osama bin Laden getötet worden, ohne dass es ein Gefecht gegeben habe.
  • Es seien auch dort keine Tausende oder Hunderttausende von Dokumenten gefunden worden; was als Dokumente aus dem Unterschlupf bin Ladens präsentiert würde, seien – seiner Quelle zufolge – Fabrikationen.
  • Osama bin Ladens Leiche sei auch nicht im Arabischen Meer versenkt worden, sondern sollte nach Afghanistan gebracht werden; Teile der Leiche seien aber von den US-Spezialkräften über dem Hindukusch aus dem Hubschrauber geworfen worden.

Was seine Quellen angeht, so sind es vor allem zwei: ein Ex-ISI-Chef (seine Dienstzeit endete 1992) und eine anonyme Quelle, die Kenntnis davon habe, wie die ursprüngliche Information über das Versteck in Abbottabad den USA bekannt geworden sei. Beweiskräftige Dokumente oder Unterlagen bietet Hersh nicht auf.

Die Veröffentlichung hat verständlicherweise einigen Wirbel verursacht, und der dauert an. Die aus meiner Sicht bisher relevantesten Reaktionen:

  • Das Weiße Haus hat (erwartungsgemäß) Hershs Version als Fabrikat abgetan.
  • John McCain, immerhin Republikaner und kein Obama-Freund, hat sich dieser Linie angeschlossen und beteuert, er sei mehrfach gebrieft worden, und zu Hershs Version passe das alles nicht.
  • Eine ganz gute Zusammenfassung findet sich auf der New York Times-Website.
  • Auf vox.com hat hat Max Fisher den bisher wohl ausführlichsten Versuch gemacht, darzustellen, was aus seiner Sicht an Hershs Text unplausibel sei.
  • NBC wiederum hat, und das war eine echte Überraschung, gestern Nacht berichtet: Auch NBC-Reporter hätten zwei unabhängige Quellen, die bestätigten, dass ein pakistanischer Informant verraten habe, wo Osama bin Laden gesteckt habe, und dass die pakistanische Regierung es ebenfalls gewusst habe.

Ich bin sicher, dass es in dieser Woche noch eine Reihe Nachrecherchen seriöser Reporter geben wird. Ich halte es für denkbar, dass sie Einzelteile der Hersh-Story, so wie NBC bereits jetzt, auch stützen werden (und andere komplett verwerfen). Dass die gesamte Version, die Hersh aufbietet, sich als wahr erweisen wird, glaube ich keinesfalls. Dafür sind etliche Details schlicht zu umplausibel (dazu später mehr).

Im Grunde geht es sowieso um eine Kernfrage, die Hersh stellt: Hielt sich Bin Laden in einem Versteck oder in einem Gefängnis auf? Wussten die Pakistaner jahrelang, wo der meistgesuchte Mann der Welt steckte, oder waren sie ebenso ahnungslos wie alle anderen auch?

Viele der anderen alternativen Wahrheiten, die Hersh aufbietet, halte ich dieser gegenüber für nachrangig – etwa die, ob es nun ein Feuergefecht gegeben hat oder nicht; oder wo und wie Bin Ladens Leiche entsorgt wurde (hier stellen sich gewiss moralische Fragen, aber keine, die die Weltpolitik auf den Kopf stellen).

Ich würde nicht von vornherein ausschließen, dass zumindest Teile innerhalb des ISI wussten, wo Bin Laden war. Der ISI ist womöglich der mysteriöseste Geheimdienst der Welt, ein wirklicher Staat im Staat, ein Dienst, der alle möglichem dreckigen Dinge anstellt, und zwar seit Jahrzehnten. Ein Geheimdienst, der zum Beispiel an Anschlägen von Dschihadisten in Indien mitgefingert hat. Ein Dienst, bei dem sicher auch nicht jeder weiß, was jeder andere tut. Deshalb ist die Geschichte von dem pakistanischen Überläufer, mit dem alles begonnen haben soll, nicht komplett unplausibel. Aber meistens sind die Dinge komplizierter. Ich habe zum Beispiel Anfang 2011 von einem Amerikaner, bei dem ich glaube, dass er ziemlich viel wusste, in Andeutungen erzählt bekommen, dass die CIA weit in Bin Ladens Kuriernetz vorgedrungen sei. Vielleicht war es Quatsch. Vielleicht aber ein Indiz dafür, dass beides parallel lief.

Es sprengt auch nicht meine Vorstellungskraft, dass das Weiße Haus oder das Pentagon bei bestimmten Details der Ansicht gewesen sein könnten, es sei besser, zu lügen – vielleicht hat das Seebegräbnis im Arabischen Meer wirklich nicht stattgefunden. Keine Ahnung. Wir haben nie Beweise zu sehen bekommen.

Aus meiner Sicht extrem unwahrscheinlich ist allerdings, dass die sogenannten Abbottabad Papers, die wir bisher kennen, Fälschungen sein sollen, wie es eine der Hersh-Quellen nahelegt. Natürlich ist es extrem unbefriedigend, dass bisher erst ca. 200 Seiten (zudem ausgewählt von den US-Sicherheitsbehörden!) öffentlich einsehbar sind. Aber die Dokumente, die ich lesen konnte, sind meiner Ansicht nach nahezu sicher authentisch. Der Tonfall, die Referenzen, die Sprache (im arabischen Original), der Aufbau, der Inhalt, selbst die rätselhaften Passagen … das alles könnten auch Über-Experten nicht ohne Weiteres fälschen.

Außerdem gibt es da noch ein Problem (gut: keines, das man nicht lösen könnte, aber trotzdem ein Problem): In mehreren Gerichtsverfahren wurden diese Dokumente als Beweismaterial eingeführt. Im Übrigen in einem Fall auch in Deutschland. In den USA wie in Deutschland wurde das FBI gebeten, den Beweis der Echtheit anzutreten. Also versuchte die Behörde, zu belegen, dass es von Abbottabad bis in die USA eine lückenlose „Chain of Custody“ gab. In dem deutschen Verfahren legte das FBI diese Kette ebenfalls offen.

In dem Begleitschreiben des FBI, das ich einsehen konnte, heißt es etwa:

„Beschreibung des Areals zur Verarbeitung der Beweismittel: Basis des US-Verteidigungsministeriums in Afghanistan; Gesicherter Hangar mit Holztischen, bedeckt mit sauberen Plastikdecken… Ankunft des Operationsteams: Flugzeug landet auf dem Flugfeld am 2. Mai 2011 um 3 Uhr 50 afghanischer Zeit. Special Agent Otte trifft die Operationskräfte am Flugzeug beim Ausstieg, begleitet die Operationskräfte zum Hangar… Aufbau der gesicherten Materialien: Beschlagnahmte Materialien werden auf die oben beschriebene Tische gelegt, die solcherart gekennzeichnet waren, dass sie mit den Fundorten innerhalb des Bin-Laden-Aufenthaltortes korrespondierten; Beschlagnahmte Materialien hatten außerdem korrespondierende Karteikarten, die als Platzhalter verwendet wurden, wenn ein Gegenstand vom Tisch genommen wurde um fotografiert oder weiterverarbeitet zu werden… die Gegenstände umfassten Telefone, Computer, Laufwerke, USB sticks, DVDs, CDs, audiovisuelle Gerätschaften, Memory-Karten und physische Dokumente, unter anderem… ein 16-Gigabyte-Kingston-Memorystick, Datatraveler 2G, wurde im zweiten Stock der Residenz gefunden… Nachdem das Beweismaterial verarbeitet war, wurden die eingetüteten Gegenstände in zwei große Plastikcontainer verpackt, die für den Transport in die USA versiegelt wurden… Special Agent Otte und alles gesicherte Material flogen dann mit einem nicht-kommerziellen Flug non-stop zu einer Air Force Base in Maryland…“

In dem Verfahren in den USA waren die Angaben noch detaillierter. Dort standen die FBI-Agenten zudem unter Eid. Meineid ist ein Verbrechen, das in den USA genau so ernst genommen wird wie hier, eher noch ernster. Es wäre natürlich nicht unmöglich, jemanden dazu zu zwingen oder dazu zu verleiten oder zu überreden. Aber es wäre schon ein ziemlich gewaltiger Aufwand. Und ein ziemliches Risiko. Wie viele FBI-Agenten würden das wohl mit sich machen lassen?

Um zum Ende zu kommen: Ich bin sehr gespannt, ob sich einzelne Teile der Hersh-Geschichte durch anderen Quellen und andere Redaktionen erhärten lassen. Insbesondere das nicht unwesentliche Detail mit dem Überläufer aus Pakistan interessiert mich. (Wenn Osama bin Laden nämlich de facto unter Hausarrest gestanden habe sollte, wird alles, was er in dieser Zeit veröffentlicht hat an Reden und wo weiter, nachträglich sehr interessant.)

Zwischen der offiziellen Variante des Weißen Hauses und der groß angelegten, drei Staaten umfassenden Verschwörungstheorie von Seymour Hersh ist in jedem Fall genug Platz für die Wahrheit.