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Warum IS-Kämpfer desertieren

 

Wer nach Mallorca auswandert und nach einem Jahr feststellt, dass sein Biergarten gar nichts abwirft oder dass ihm das Wetter doch nicht behagt, dem steht der Weg zurück offen. Für Dschihadisten, die sich dem „Islamischen Staat“ (IS) in Syrien oder dem Irak angeschlossen haben und im „Kalifat“ leben, gilt das nicht. Die IS-Kommandeure betrachten jeden Ausreiseversuch als Verbrechen und Verrat; es gibt glaubwürdige Hinweise, dass Dutzende ausländische IS-Kämpfer vom IS getötet wurden, nur weil sie (tatsächlich oder vermeintlich) desertieren wollten; es sind den deutschen (und gewiss auch anderen) Sicherheitsbehörden mehrere Fälle bekannt, in denen aus Deutschland ins Kalifat Ausgewanderte am liebsten wieder zurückkehren würden.

Das renommierte „International Centre for the Study of Radicalization and Political Violence“ (ICSR) am Londoner King’s College hat nun erstmals 58 öffentlich bekannte Fälle von desertierten IS-Anhängern ausgewertet. „Victims, Perpetrators, Assets: The Narratives of Islamic State Defectors„, hat der Terrorismusforscher Peter R. Neumann seine Studie genannt. Sie lag ZEIT ONLINE vorab vor und ist ab heute öffentlich zugänglich.

Die Studie macht zwei wichtige Dinge richtig: Sie schafft einen wertvollen Überblick über dieses relativ neue, aber bedeutsame Phänomen (die Fälle stammen aus dem Zeitraum zwischen Januar 2014 und August 2015) – und zugleich vermeidet Neumann es, die manchmal nur skizzenhaften Informationen, die über diese Fälle bekannt sind, überzustrapazieren. Er weist selbst darauf hin, dass einige der Deserteure ein Interesse haben könnten, ihre eigene Rolle oder das, was sie erlebt haben, nicht immer vollständig wahrhaftig wiederzugeben.

Die Gründe, die dazu führten, dass diese IS-Anhänger (51) und -Anhängerinnen (7) der Terrorgruppe den Rücken kehrten, hat Neumann auf vier „Narrative“ eingedampft:

  1. Der IS kämpft zu viel gegen andere sunnitische Muslime (die in anderen islamistischen Gruppen oder Rebellen-Milizen organisiert sind) und zu wenig gegen das Assad-Regime.
  2. Die Brutalität des IS, etwa in der Form von Gewalt gegen Zivilisten oder Ermordungen von Geiseln. (Allerdings, so ergänzt Neumann, habe niemand unter den Deserteuren IS-Gewalt gegen nicht-sunnitische Minderheiten oder Gruppen angeprangert.)
  3. „Un-islamisches Verhalten“ von IS-Führern, etwa Ungerechtigkeit oder Rassismus. Ein Beispiel: Syrische Deserteure beklagten, dass ausländische Kämpfer privilegiert wurden.
  4. Problematische Lebensumstände. Hier finden sich banal anmutende Kritikpunkte wie etwa „langweilige Arbeiten“, die zu verrichten gewesen seien, oder die Erkenntnis, dass das versprochene Luxus-Auto sich nicht manifestieren wird.

Die Deserteure, deren Aussagen Neumann untersucht hat, stammen aus insgesamt 17 Staaten, neun von ihnen aus West-Europa und Australien. Wenn es – wonach es aussieht – irgendwann eine größere Datengrundlage gibt, könnte man versuchen, herauszuarbeiten, ob westliche foreign fighters aus anderen Gründen desertieren als solche aus den arabischen Staaten. Aber dafür ist es noch zu früh. Wenn es einen gemeinsamen Nenner gibt, dann ist es, so Neumann, wohl am ehesten der, dass der IS in den Augen der Deserteure nicht das eingelöst hat, was sie als Versprechen wahrgenommen haben – ob es sich dabei nun um ein Auto oder religiöse Reinheit gehandelt hat.

Die Studie schließt mit Vorschlägen an Politik und Zivilgesellschaft. Ausgehend von der Vermutung, dass die Bekenntnisse der Deserteure eine wichtige Rolle dabei spielen könnten, junge Menschen davon abzuhalten, sich radikalisieren und rekrutieren zu lassen, schlägt Neumann vor, dass Deserteuren die Möglichkeit gegeben werden sollte, ihre Erfahrungen mitzuteilen. Das klingt banaler als es ist – oftmals sind Justiz und Sicherheitsbehörden zum Beispiel nicht gerade daran interessiert, dass zum Beispiel Journalisten mit solchen Deserteuren in Kontakt treten.

Die ICSR-Studie wirft ein Schlaglicht auf Probleme, die der IS durch stete Propaganda zu übertünchen versucht. Keineswegs gelingt es der Terrororganisation, alle ihre Anhänger zufriedenzustellen. Keineswegs zeigen die Werbevideos aus dem Kalifat die Wahrheit. In Zukunft dürfte es noch mehr Deserteure geben. Neumann betont freilich, dass es unmöglich ist einzuschätzen, wie viele unter den IS-Rekruten unzufrieden sind. Wenn man die 58 Fälle auf einer Zeitleiste einträgt, erhält man allerdings ein Muster, das auf einen Anstieg der Desertionen über die Zeit hindeutet.

Das kann natürlich auch auf ebenfalls über die Zeit gestiegenes journalistisches Interesse zurückgehen. Aber andererseits gibt es nun wirklich überhaupt keine Hinweise dafür, dass IS-Rekruten heute glücklicher und zufriedener wären als zu früheren Zeitpunkten.