Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Das kleine Elend hinter der großen Angst

 

Der überraschendste Moment an diesem langen Tag am Amtsgericht Köln ereignet sich während des Plädoyers der Verteidigung im Fall Younes A. Der 24 Jahre alte Marokkaner hatte in der Silvesternacht in Köln einer 20 Jahre alten Frau aus Baden-Württemberg das Handy geklaut. Außerdem hatte er ein Gramm Amphetamine dabei. Sein Urteil steht unmittelbar bevor. Der Staatsanwalt hat soeben sechs Monate und zwei Wochen auf Bewährung gefordert. Jetzt ist sein Verteidiger dran. Der blickt Younes A. an, zeigt auf ihn und sagt schließlich: „Diese … ich würd‘ schon sagen: Wurst.“

Es ist ein hilfloser Versuch ein prekäres Leben auf einen einzigen Begriff zu bringen. Aber es ist ja etwas dran. Keiner der drei jungen, aus Nordafrika stammenden Männer, die an diesem Tag vor Gericht stehen, ist ein professioneller Verbrecher. Keiner ist vorbestraft, allerdings sind sie durchaus polizeibekannt. Keiner hat Familie hier, keiner einen gesicherten Aufenthaltsstatus, alle leben von der Hand in den Mund und schlagen sich irgendwie durch. Younes A. sagt, er sei hier, weil er gehört habe, Deutschland sei ein gutes Land. Samir S., über dessen Gesicht eine Narbe verläuft, gibt an, dass er geflohen sei. Sein Bruder habe in Marokko jemanden verletzt, dessen Familie habe sich an ihm gerächt, daher stamme die Narbe. Khalid B., der offensichtlich anders heißt, berichtet von Stress mit seinem Stiefvater, der ihn nie akzeptiert habe. In der Silvesternacht hatten Khalid B. und Samir S., die sich angeblich erst an jenem Tag kennenlernten, gemeinsam mit zwei Unbekannten einem indischen Touristen die Kamera geklaut.

Alle drei wollen zufällig am Silvesterabend in Köln gewesen sein. Es gibt keine Belege, die dem widersprechen. Es bleibt also auch nach den Urteilen von heute vorerst ungeklärt, wieso sich an jenem Abend Hunderte, mutmaßlich vor allem aus Nordafrika stammende Männer, rund um den Hauptbahnhof zusammenrotteten und nicht nur hunderte Diebstähle begingen, sondern auch zahlreiche Frauen sexuell belästigten.

Das ungelöste Rätsel dieser Nacht, und das Trauma, das in Köln und darüber hinaus ausgelöst wurde, prägen die Verhandlungen am Amtsgericht. Der Richter im Fall Younes A. investiert einiges an Energie, um sicherzugehen, dass der Angeklagte wirklich nur geklaut und nicht auch noch gegrabscht hat. Denn die Frau, der er das Mobiltelefon gestohlen hatte, gehört zu den Frauen, die belästigt wurden. Aber der Verdacht erhärtet sich nicht. Er wird wegen Diebstahls zu sechs Monaten Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von 100 Euro verurteilt. Bei den anderen beiden Angeklagten, gegen die wenig später verhandelt wird, steht dieser Verdacht gar nicht im Raum, hier geht es nur um Diebstahl. Einer der Täter wird zu drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Für seinen Komplizen gilt das Jugendstrafrecht. Er muss sich zwei Jahre bewähren.

Insbesondere bei der Staatsanwaltschaft zeichnet sich an diesem Tag derweil etwas ab, was man eine Kölner Linie nennen könnte: Wenn die Horrornacht an Silvester aus der Summe Hunderter Einzeltaten besteht, dann kann in der juristischen Aufarbeitung nicht jede einzelne Tat als losgelöster Einzelfall betrachtet werden.

„In normalen Zeiten“, formuliert es der Staatsanwalt im Verfahren von Khaled B. und Samir S., „hätten wir hier in aller Kürze und ohne Aufmerksamkeit verhandelt.“ Nun aber gebe es in der Gesellschaft einen gewissen Aufruhr, die Silvesternacht habe zu einer „besorgniserregenden Steigerung des Gefühle der Unsicherheit“ geführt. Es wäre jetzt leicht, einen „populistischen Antrag“ zu stellen, also eine hohe Strafe zu fordern, aber es gehe ihm nicht darum, ein Exempel zu statuieren. Allerdings wolle er durchaus ein deutliches Signal senden, Abschreckung gehöre dazu, und „solches Verhalten wird nicht toleriert“. Nicht unähnlich argumentiert die Staatsanwältin im Verfahren gegen Younes A.: Es gebe einen „Gesamtzusammenhang“ der Silvesternacht, in der hunderte Straftaten ermöglicht worden seien, und „auch dieser Einzelfall war ein Mosaiksteinchen, das zu der Verunsicherung beigetragen hat“.

Diese Linie ist überzeugend. Sie führt womöglich zu Urteilen, die leicht über den Strafen liegen, die ohne den „Gesamtzusammenhang Silvesternacht“ verhängt worden wären; aber das lässt sich rechtfertigen. Der Auftakt der juristischen Aufarbeitung ist an diesem Tag erst einmal gelungen. In den kommenden Wochen und Monaten dürften zahlreiche Verfahren folgen. Wenn die ersten Verdächtigen wegen sexueller Übergriffe vor Gericht erscheinen, wird sich zeigen, ob sich die Kölner Linie auch dort bewährt.

Ganz nebenbei werden die Verfahren allerdings auch den Blick auf die Lebensverhältnisse der Verdächtigen schärfen. Auch das ist gut. Die Schicksale dieser jungen Männer zwischen Illegalität und Kriminalität, auch sie verlangen nach Lösungen.