Fast alle Fehleinschätzungen im „Krieg gegen den Terror“, und zwar egal ob gegen Al-Kaida oder den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS), beruhen darauf, dass wir dazu tendieren, dschihadistische Terrororganisationen nach uns vertrauten Maßstäben zu analysieren. Das funktioniert aber nicht. Dschihadistische Terrororganisationen sind ebenso wenig Armeen, wie sie Abbilder der Terrorgruppen sind, die wir aus dem Westen kennen (RAF, Eta, IRA, etc.). Sie stehen in einer eigenen Tradition, die durch eine sehr spezifische Ideologie (mit-)geprägt ist. Deshalb wirken Gruppen wie der IS auf uns mitunter widersprüchlich – auch wenn sie es in ihren eigenen Augen überhaupt nicht sind.
Die Süddeutsche Zeitung berichtete jüngst neue Details aus dem Fall der 15-jährigen Safia S., die im Februar einem Bundespolizisten in den Hals gestochen hatte. Dem Bericht zufolge hatte Safia S. in einem Chat einem Bekannten in Hannover berichtet, sie habe in der Türkei Kontakt mit „Angestellten“ des IS gehabt. Eigentlich hatte sie sich der Gruppe in Syrien anschließen wollen, aber die „Angestellten“ hätten ihr gesagt, es sei besser, wenn sie in Deutschland eine „Überraschung für die Ungläubigen“ mache: „Sie haben mir gesagt, es hat einen größeren Nutzen“, zitiert die SZ aus dem Chat.
Denkbar, dass Safia S. überzeugt war, dies sei eine Direktive des IS. Ebenso denkbar ist aber, dass die Personen, die sie in der Türkei getroffen hat, keine wichtigen IS-Kader waren. Wir wissen es nicht.
Es geht aber um etwas anderes, nämlich um die mögliche Deutung dieses Vorgangs. Denn schon lassen sich Analyse-Versuche finden, die den Vorfall als Indiz für die „Verzweiflung“ des IS lesen. Die Gruppe sei militärisch derartig unter Druck geraten, dass sie nun quasi jeden beziehungsweise jede nähme, der oder die bereit sei, in ihrem Namen Terror auszuüben. Auch wenn die daraus resultierenden Anschläge noch so unspektakulär seien.
Taktisch und operativ geschultes Personal
Es ist aber Unfug, einen solchen einzelnen Vorfall, über den wir zudem wenig wissen, in diesem Fall nicht einmal die Namen oder den Status der Beteiligten, in dieser Weise aufzubauschen. Tatsächlich liegt die von Safia S. dem Chat zufolge empfangene Empfehlung sogar auf der Linie dessen, was der IS seinen Anhängern und Sympathisanten seit über einem Jahr eintrichtert: Schreitet selbst zur Tat! Tut, was ihr nur könnt, um Angst und Schrecken zu verbreiten! Erst letzte Woche erklärte der IS-Sprecher al-Adnani: „Wahrlich, der kleine Akt, den ihr dort fertigbringt, ist für uns wichtiger als der größte Akt, den ihr hier vollbringt.“ Daraus muss nicht Verzweiflung sprechen. Das kann auch eine Taktik sein: Warum eine 15-Jährige ins Kalifat importieren, wo sie als Kämpferin nichts nutzt? Warum sie nicht stattdessen wieder zurückschicken und etwas tun lassen, was alleine schon deshalb Aufsehen erregen wird, weil sie erst 15 Jahre alt ist?
Der IS verfügt in seiner Führung über taktisch und operativ geschultes Personal. Seiner Anschlagspolitik, wenn man es einmal so nennen darf, liegt mit ziemlicher Gewissheit eine Matrix zugrunde. Eine 15-Jährige, die einen Anschlag entweder zustande bringt oder auch nicht, ist in einem solchen Abwägungsraster ein Investment, das wenig kostet, keine Ressourcen bindet, im Erfolgsfall nutzt, und zugleich nicht schadet, wenn es sich nicht rentiert. Also: Lasst sie es versuchen! So dürften die IS-Männer gedacht haben.
Zugleich hat der IS mittlerweile einen Grad an Komplexität erreicht, dass er in der Lage ist, mehrere Ziele gleichzeitig zu verfolgen. Auch dieser Aspekt geht oft unter. Denn es ist keineswegs so, dass der jeweils letzte Anschlagsplan des IS, der bekannt wird, absolute Aussagekraft über die derzeitigen Prioritäten des IS besitzt. Anders gesagt: Während es „stimmt“, was Adnani sagt, dass also jeder seinen eigenen Anschlag planen solle, „stimmt“ zugleich, dass der IS eine Abteilung für die Planung von großen Anschlägen im Westen betreibt. Der ausgefeilte Massenmord von Paris und die Messerattacke von Hannover gehören beide zu den Zielen des IS. Das ist kein Widerspruch. Das ist, aus Sicht des IS, sogar sinnvoll. Denn Anschläge wie in Paris oder Brüssel kann man nicht alle paar Wochen ausüben. Aber wenn in den Intervallen kleinere, umso unerwartetere Attacken stattfinden, zahlt das alles auf das Publicity- und Angst-Konto des IS ein.
Die Komplexität des IS geht sogar noch weiter. Es ist nämlich denkbar, dass er gleichzeitig militärisch unter Druck ist und trotzdem in Sachen Anschlagsplanungen gegen den Westen sehr gut aufgestellt ist. Wir wissen zu wenig aus dem Inneren der Organisation, um das beurteilen zu können. Das gilt im Übrigen auch für die Geheimdienste. Aber gerade deshalb sollten wir uns vor zu schnellen Schlüssen hüten.
Derzeit zum Beispiel verteidigt der IS seine Gebiete in Syrien und im Irak mit Händen und Klauen, an einigen Orten ist er sogar in die Offensive gegangen. Gleichzeit hat die IS-Führung öffentlich klargestellt: Selbst wenn wir unsere Hauptstädte Rakka und Mossul verlieren sollten, wäre das egal. Und es stimmt sogar: Der IS, beziehungsweise seine Vorläuferorganisationen, sind durch lange Jahre gegangen, in denen sie als Guerilla/Mafia/Terror-Organisation Geld, Ressourcen und Rekruten anhäufen konnten, auch ohne Städte direkt zu kontrollieren. Und Städte wechseln im Irak derzeit oft über Nacht die Hände.
Tatsächlich sind die neuen Erkenntnisse aus dem Fall Safia S. interessant. Aber sie haben keine Aussagekraft über die generelle Verfasstheit des IS. Dafür ist ihr Fall zu klein, sind die türkischen Kader mutmaßlich zu weit von der IS-Zentrale. Die Information ist ein Puzzlestück. Wenn sich ähnliche Erkenntnisse häufen, dann steigt auch die Bedeutung dieser Information.
Bis dahin gilt die Regel: Nie vergessen, wie wenig wir über den IS wissen!