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Al-Kaidas Chef al-Sawahiri stellt neue Regeln auf

 

Seit gut zwei Jahren führt der ägyptische Arzt Aiman al-Sawahiri das Terrornetzwerk Al-Kaida an. Zum ersten Mal tritt er nun erkennbar aus dem Schatten seines Vorgängers Osama Bin Laden, der im Mai 2011 von US-Spezialeinheiten in Pakistan getötet worden war. Und zwar nicht mit einer Rede, sondern mit einer fünfseitigen (arabisches Original) beziehungsweise siebenseitigen Erklärung (englische Übersetzung, von Al-Kaida zur Verfügung gestellt) namens „Allgemeine Erläuterungen zur dschihadistischen Arbeit“. Al-Kaidas Medienabteilung Al-Sahab hat das Dokument vor einigen Tagen über einschlägige Internetseiten verbreitet; es liegt ZEIT ONLINE vor.

Das Papier ist sehr interessant – schon weil es in eine Kategorie von Kaida-Veröffentlichungen fällt, die in den vergangenen Jahren immer seltener geworden ist: jene nämlich, die sich nicht vornehmlich an „den Feind“ richtet und ihn einschüchtern soll, sondern stattdessen Anweisungen für die eigenen Anhänger enthält. Wörtlich sagt al-Sawahiri: „Wir rufen die Anführer aller Gruppen, die zur Gemeinschaft Al-Kaidas zählen, sowie unsere Unterstützer und Sympathisanten dazu auf, diese Richtlinien unter ihren Mitgliedern zu verbreiten, gleich ob Anführer oder Individuen.“

Diese Richtlinien beginnen recht unspektakulär mit einer Art Präambel: Al-Kaida agiere erstens militärisch und zweitens durch Propaganda; militärische Akte seien vornehmlich gegen „das Haupt des Unglaubens“, also die USA sowie deren Alliierten Israel gerichtet, ferner gegen „die lokalen Verbündeten, die unsere Länder regieren“. Zweck und Ziel aller Angriffe auf die USA sei es, das Land „auszubluten“, auf dass es der verbliebenen Supermacht so ergehe wie einst der Sowjetunion. Danach – das ist die dschihadistische Variante der Domino-Theorie des Kalten Krieges – würden dann alle US-Alliierten „einer nach dem anderen“ ebenfalls stürzen.

Es folgt eine wenig überzeugende Lesart des Arabische Frühlings: Dieser sei ein von den USA (!) geschaffenes Ventil für die Unzufriedenheit der Menschen in diesen Ländern, habe sich nun aber zum Nachteil der USA weiterentwickelt. Wahrscheinlich verbreitet al-Sawahiri diese Deutung, weil er sonst eingestehen müsste, dass es nicht etwa, wie stets von Al-Kaida propagiert, Dschihadisten waren, die arabische Autokraten hinwegfegten, sondern eher liberal gesonnene Bürgerinnen und Bürger.

„Denn unser Kampf ist lang“

Dann aber wird es interessant. Denn nun schlägt al-Sawahiri eine Brücke zwischen „Propaganda“ und „Operationen“: Den Muslimen weltweit müsse klargemacht werden, dass die „Mudschahedin“ die Speerspitze des Widerstands gegen die neuen „Kreuzzügler gegen den Islam“ seien. Jegliche militärische Tätigkeit Al-Kaidas, so der oberste Anführer sinngemäß, müsse entsprechend legitimierbar sein: als Akt der Verteidigung, nicht etwa der Aggression.

Diese Denkfigur hat bei Al-Kaida zwar schon immer große Bedeutung gehabt. Osama Bin Laden versuchte mit ihrer Hilfe, 9/11 zu legitimieren: Die Anschläge von New York und Washington seien ja lediglich eine Schlacht in einem immerwährenden Krieg, ein Gegenschlag, eine Reaktion der Attackierten, Vergeltung und nicht etwa eine Kriegserklärung.

Aber in den vergangenen Jahren ist Al-Kaida anders aufgetreten, und al-Sawahiri hat offensichtlich beschlossen, Konsequenzen daraus zu ziehen, dass sein Terrornetzwerk über sehr wenig öffentliche Unterstützung in der islamischen Welt verfügt, weil es zunehmend als blutrünstig, brutal und unterschiedslos mörderisch in Erscheinung getreten ist.

Entsprechend befiehlt al-Sawahiri Zurückhaltung: „Es sollte vermieden werden, in einen bewaffneten Konflikt (mit den lokalen Herrschern) einzutreten. Wenn wir gezwungen sind zu kämpfen, müssen wir klarmachen, dass unser Kampf gegen sie ein Teil unseres Widerstandes gegen den kreuzzüglerischen Angriff auf die Muslime ist.“ Al-Sawahiri will also vermeiden, dass Al-Kaida wirkt, als übe sie Gewalt (zumal in der muslimischen Welt) zum Zwecke der Gewalt aus. Er geht sogar noch weiter. Wo möglich, solle man Konflikte sogar befrieden, sollte danach eine Situation entstehen, in der „die Brüder“ Freiraum zur Ausübung von Propaganda und Rekrutierung hätten: „Denn unser Kampf ist lang, und der Dschihad braucht sichere Basen …“

Keine Angriffe auf Christen oder Schiiten mehr!

Noch weitreichender: Al-Sawahiri fordert die Kader auf, Angriffe auf „abweichende“ islamische „Sekten“ wie Schiiten oder Sufis zu unterlassen. „Selbst falls sie Sunniten angreifen, muss unsere Reaktion beschränkt bleiben und darf nur jenen gelten, die uns auch angegriffen haben.“ Auch von Christen, Hindus und Sikh, die in muslimischen Ländern leben, sollen die Mudschahedin ablassen, sondern diesen stattdessen erklären, dass Al-Kaida mit ihnen friedlich gemeinsam in einem islamischen Staat leben möchte.

Ansonsten gelte es, Zivilisten (insbesondere muslimische) zu schonen, also keine Angriffe auf Moscheen, Märkte oder andere Orte, wo sich gewöhnliche Muslime aufhalten könnten. Ferner: Hände weg von islamischen Gelehrten (auch wenn sie gegen Al-Kaida sind) sowie von Frauen und Kindern.

Was will al-Sawahiri mit diesem Papier erreichen? Zunächst einmal: Es schwingt in dem Dokument eine Kritik nach, die der Ägypter auf dem Höhepunkt des irakischen Bürgerkrieges an den seinerzeitigen Kaida-Statthalter dort gerichtet hatte, dass dieser sich nämlich mit seiner überbordenden Blutrünstigkeit zurückhalten solle, weil das die lokalen Unterstützer verprelle, auf die Al-Kaida angewiesen sei. Al-Sawahiri sieht Al-Kaida eben gar nicht in erster Linie als Terrororganisation, sondern als Bewegung – und als solche müssen ihre Taten vermittelbar und in sich schlüssig sein, und sollten sich außerdem besser nicht unterschiedslos gegen Zivilisten richten.

Zum zweiten: Al-Sawahiri ist mit Leib und Seele Ägypter, man darf getrost davon ausgehen, dass es stets die Lage in seinem Heimatland ist, die ihn am meisten umtreibt. Und unter diesem Aspekt ergibt sein Richtlinien-Papier noch einmal besonderen Sinn. In Ägypten nämlich, wo das Militär den von den Muslimbrüdern gestellten Präsidenten abgesetzt hat, stehen die radikalen Ränder der Muslimbrüder gerade vor der Frage, wie sie auf diesen Putsch reagieren sollen. Al-Sawahiri will jene einfangen, die mit den vormaligen, eher zivilen Taktiken und Methoden der Brüder nichts mehr anfangen können, denen Al-Kaida aber zu mörderisch erscheint. Eine geschminkte, politischere, von Regeln der Kriegsführung bestimmte Al-Kaida könnte aber als Auffangbecken für junge, radikalisierte Muslimbrüder interessant sein.

Al-Sawahiri will ideologische Reinheit

Al-Sawahiri spricht niemandem, der kämpfen will, ob in Syrien oder gegen das chinesische Regime, das Recht dazu ab; er verlangt lediglich die Einhaltung gewisser Regeln und die ständige Rückführung der Aktivitäten auf die große Al-Kaida-Erzählung vom Angriff der Kreuzfahrer auf die islamische Welt. Im Grunde handelt es sich um den Versuch, eine gewisse ideologische Reinheit wiederherzustellen, die zuletzt kaum mehr erkennbar war.

Die Anhänger Al-Kaidas reagieren freundlich auf die neuen Maßgaben; alles, was Al-Kaida als wichtigen Faktor mit einhelliger Botschaft erscheinen lässt, ist ihnen recht. Zumal al-Sawahiri ihnen weder den Krieg noch den Terror verbietet – im Gegenteil: Angriffe auf US-Bürger und Israelis erklärt der Al-Kaida-Chef für stets zulässig und gewünscht.

Eine andere Frage ist, ob jene Kämpfer im Namen Al-Kaidas, die besonders mörderisch vorgehen, sich an die Regeln halten wollen oder werden – also jene, die im Irak gegen Schiiten wüten oder in Syrien zum Beispiel Christen niedermetzeln, nur weil sie Christen sind. Die Chancen stehen freilich nicht so gut; schon al-Sarkawi reagierte seinerzeit nicht auf al-Sawahiris Kritik.

Für Kaida-Anhänger ist die Botschaft aus der Zentrale dennoch wichtig: Al-Sawahiri gilt bislang als eher blasser Nachfolger Bin Ladens mit wenig Anstößen, gar keinem Charisma und schwachen Antworten. Jetzt hat er erstmals eine Art Programm vorgelegt. Es könnte sein, dass die Erklärung seine Position festigt.