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Wann ist ein IS-Anschlag ein IS-Anschlag?

Der Anschlag auf den Wettbewerb für Mohammed-Karikaturen in Garland im US-Bundesstaat Texas ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich dschihadistisch motivierte Terrorattacken, vor allem solche, die im Westen passieren, immer schwieriger kategorisieren lassen. Anders gesagt, beziehungsweise gefragt: Wann ist ein IS-Anschlag eigentlich ein IS-Anschlag? Und vor allem: Was bedeutet das überhaupt?

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Wie Gauland den Islam fremder macht, als er ist

Was bedeutet das eigentlich: einander „kulturell völlig fremd“ zu sein?

Ich habe mal einige Tage in einer Aborigine-Community im australischen Outback verbracht. Da habe ich erhebliche kulturelle Unterschiede festgestellt. Genau genommen habe ich gar nicht begriffen, was um mich herum geschah. Es gab nicht nur eine Sprachbarriere. Ich wusste auch nicht, was wichtig ist. Oder wer. Ich hatte keine Ahnung, welche Regeln gelten. Ich verstand nicht, was die anderen in mir sahen oder nicht sahen, ob sie etwas von mir erwarteten – und wenn ja, was?

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Was sagen eigentlich die Kirchen zu Pegida?

Die Pegida-Bewegung trägt den Begriff schon im Namen: „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes„. Doch Abendland ist hier nicht als geografische oder historische Bezeichnung gemeint; der Begriff „Islamisierung“ ist ein erster Hinweis: Die Pegida-Demonstranten meinen ein Abendland, das sie selbst oft mit den Attributen „christlich“ oder „christlich-jüdisch“ anreichern. Dieses Abendland stellt in ihren Augen eine Art gewachsene Wertegrundlage dar, deren Bedeutung durch die „Islamisierung“ in Frage gestellt werde.

Nun sind die evangelische und die katholische Kirche natürlich nicht die Gralshüter dieses Begriffs. Auch der Zentralrat der Juden ist es nicht. Jeder ist frei, ihn zu verwenden. Ich fand es trotzdem interessant, alle drei Institutionen zu fragen, wie sie zu diesem Begriff stehen. Außerdem wollte ich wissen, ob sie eine Islamisierung des Abendlandes befürchten.

Ich habe deshalb drei Mal dieselbe E-Mail verschickt; die beiden Fragen lauteten folgendermaßen:

1.) Glauben Sie, dass es eine schleichende, offene oder drohende „Islamisierung“ in Deutschland gibt?

2.) Finden Sie den Begriff „Abendland“ oder „christliches Abendland“ oder „christlich-jüdisches Abendland“ sinnvoll? Was bedeutet er für den Zentralrat der Juden / die Deutsche Bischofskonferenz / die Evangelische Kirche in Deutschland, verwenden Sie ihn oder halten Sie ihn für irreführend?

Im Folgenden dokumentiere ich die Antworten in voller Länge.

Ein Sprecher der Evangelischen Kirche in Deutschland antwortete so:

„Von einer Islamisierung kann angesichts eines Bevölkerungsanteils von weniger als fünf Prozent Muslimen und des friedlichen Zusammenlebens keine Rede sein. Der Begriff christliches Abendland ist ein Kulturbegriff, der mit Religion nur bedingt etwas zu tun hat. Er kann leicht dazu missbraucht werden, etwas als christlich auszugeben, was faktisch den christlichen Orientierungen entgegensteht. Der Begriff wird leider auch oft missbraucht, um sich von anderen Menschen, anderen Religionen und anderen Kulturen abzugrenzen. Wenn der Begriff benutzt wird, um ausländerfeindliche, rassistische und menschenverachtende Parolen zu unterfüttern, ist das das genaue Gegenteil von Christentum.“

Die Antwort von Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden:

„Von einer ‚Islamisierung‘ Deutschlands kann überhaupt keine Rede sein. Das zeigen allein die Zahlen: In Deutschland leben nur vier Millionen Muslime, vier Millionen von 80 Millionen Bürgern. Hier werden von den Pegida-Initiatoren in unverantwortlicher Weise Ängste geschürt und zugleich eine bestimmte Religion verunglimpft. Mit Blick auf unsere Geschichte kann man durchaus von einer christlich-jüdischen Kultur sprechen. Der Begriff „christlich-jüdisches Abendland“ wird von Pegida und Co. jedoch in einem ausgrenzenden Sinn verwendet. Das lehne ich ab. Sowohl in der Geschichte Europas als auch heutzutage hat der Islam zu wichtigen kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften beigetragen und war und ist eine Bereicherung. Ebenso gab es immer säkulare Strömungen, die unsere Kultur vorangebracht haben.“

Schließlich die Antwort des Pressesprechers der Deutschen Bischofskonferenz (DBK):

„Wir bitten um Verständnis, dass wir uns derzeit nicht an der Debatte beteiligen möchten. Die jüngsten Positionen von Papst Franziskus zum Islam (s. Besuch in der Türkei) und die Bedeutung Europas (s. Besuch in Straßburg) sind sicherlich wegweisend.“

 

EKD und ZdJ sind sich also einig: Von einer Islamisierung kann keine Rede sein. Zudem sehen sie die Art und Weise der Verwendung des Begriffes „Abendland“ durch Pegida skeptisch bis kritisch. (Allerdings warnt der EKD-Vorsitzende zugleich vor einer „Dämonisierung“ der Pegida-Bewegung, das ergänze ich hier gerne der Vollständigkeit halber.)

Ich bin dem Hinweis des DBK-Sprechers gefolgt und habe nachgelesen, was Papst Franziskus in der Türkei beziehungsweise in Straßburg gesagt hat. Der Papst hat hat auf diesen Reisen deutliche Worte gegen islamistischen Terrorismus, für die Religionsfreiheit und für den interreligiösen Dialog gefunden. Er hat auch inhumane Praktiken im Umgang mit Flüchtlingen angeprangert. Es waren starke, klare Aussagen. Aber auf das Phänomen Pegida sind sie nur schwer anzuwenden.

Unter dem Strich scheint es mir dennoch so zu sein, dass die Pegida-Demonstranten sagen wir mal: eher wenig Rückhalt in jenen offiziösen Institutionen genießen, deren Werte und Maßstäbe sie verteidigen möchten. Heute wollen die Demonstranten in Dresden mit dem Singen von Weihnachtsliedern gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ protestieren. Ich vermute, dass kaum ein katholischer, evangelischer oder jüdischer Geistlicher dabei sein wird.

 

Islamische Argumente gegen den „Islamischen Staat“

Der „Islamische Staat“ (IS) tut etwas, was Al-Kaida nie getan hat: Er trägt das Adjektiv „islamisch“ im Namen. Natürlich tun die Dschihadisten das mit Absicht und Berechnung: Sie erheben einen Alleinvertretungsanspruch für die „Umma“, die Gemeinschaft aller Muslime. Muslim ist demnach, wen sie als Muslim akzeptieren. Alle anderen müssen bereuen, umkehren und sich dem „Islamischen Staat“ anschließen. Oder sie werden verurteilt, bestraft oder gleich ermordet. Der „takfir“, also das Zum-Ungläubigen-Erklären, ist seit jeher eine Säule des dschihadistischen Denkens, und der IS macht davon reichlich Gebrauch.

In ihren Erklärungen, Reden und Kommuniqués geben sich die IS-Anführer zugleich theologisch geschult. Bei Abu Bakr al-Baghdadi, dem Chef und „Kalifen“, ist da sogar etwas dran: Nach allem, was wir wissen können, hat er tatsächlich die Islamischen Wissenschaften studiert. Mit dem Mainstream, mit der jahrhundertelangen islamischen theologischen Tradition, hat sein Denken trotzdem wenig zu tun.

Umso wichtiger ist es, wenn gestandene Islamgelehrte die Art und Weise, in welcher der IS (und Al-Kaida, die es oft ganz ähnlich machen) mit theologischen Versatzstücken hantiert, kenntlich machen und kritisieren. Sie können zeigen, wo und wie sehr der IS von allem abweicht, was weitestgehender Konsens unter islamischen Gelehrten weltweit ist.

Ein Beispiel: In einer Rede erklärte al-Baghdadi, der Prophet Mohammed sei mit dem Schwert als eine Gnade in die Welt gekommen. Tatsächlich steht im Koran, der Prophet sei als eine Gnade in die Welt gekommen. Dass er mit dem Schwert gekommen sei, findet sich aber im Hadith – im Kodex der überlieferten Aussagen und Aussprüche und Handlungen des Propheten.

Warum ist das wichtig? Erstens, weil man nach gängiger Lehre Koran und Hadith nicht vermischen darf. Zweitens, weil der Koran-Inhalt Muslimen als ewig richtig und wahr gilt, der Hadith-Kodex hingegen zeitgebunden zu interpretieren ist.

Das Beispiel stammt nicht von mir. Es stammt aus einem „Brief an Baghdadi“, den 126 Islamgelehrte aus vielen verschiedenen Ländern unterzeichnet und auf eine Webseite gestellt haben. Er ist der Versuch, die vermeintlichen islamischen Wahrheiten der IS-Argumentation zu widerlegen.

Ich finde diesen Brief wichtig. Er hat nichts zu tun mit den ständig verlangten Distanzierungen der Muslime dieser Welt von den Gräueltaten des IS, davon halte ich wenig. Natürlich enthält der Brief all das, aber es ist eben theologisch unterfüttert. Er richtet sich auch gar nicht an ein nicht-muslimisches Publikum. Sondern an Muslime, denen er vor Augen führt, dass nichts, wirklich gar nichts, so simpel ist in dieser an Lehren, Traditionen und Theologien reichen Religion, wie der selbst ernannte Kalif es ihnen weismachen will.

Genau aus diesem Grund finde ich aber durchaus, dass Nicht-Muslime einmal einen Blick darauf werfen sollten. Der Brief vermittelt einen ganz guten Eindruck von der Art, wie Islamgelehrte argumentieren. Echte Islamgelehrte.

Natürlich bedeutet das nicht zwangsläufig, dass alle, die diesen Brief unterzeichnet haben, in allen Dingen Vorstellungen teilen, die sie gleich zu Liberalen oder Demokraten machen. Ich kenne auch nur wenige Namen auf dieser Liste. Aber die Ämter, die sie bekleiden oder bekleidet haben, sprechen für sich. Es sind mehrere Repräsentanten der ägyptischen Fatwa-Behörde darunter, der ehemalige Großmufti von Bosnien, ein hochrangiger Sufi-Scheich, ein Professor der US-amerikanischen Brandeis University, und so weiter.

Recht eindrucksvoll. Und hoffentlich vielgelesen.

 

Soll man die Flagge des „Islamischen Staates“ verbieten?

Das Bundesinnenministerium hat ein Betätigungsverbot für die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ ausgesprochen. So weit, so unspektakulär. Der Schritt von Bundesinnenminister Thomas de Maizière ist sinnvoll, auch wenn das Verbot allein bei der Bekämpfung der Dschihadisten wenig effektiv sein wird. Nur wenige Dschihadisten werden sich selbst, zumal hier in Deutschland, als Zelle oder Gruppe oder Einheit oder Mitglieder des „Islamischen Staates“ bezeichnen. Aber selbst aus symbolischen Gründen finde ich das Verbot richtig.

Etwas komplizierter ist es allerdings mit einer zweiten Absicht, die das Innenministerium verfolgt: Auch das Verwenden von Symbolen wie der schwarzen IS-Flagge soll untersagt werden. 

Richtig ist, dass der „Islamische Staat“ ziemlich durchgehend in all seinen öffentlichen Publikationen und Auftritten diese Flagge verwendet:

 

Ausländische Dschihadisten inszenieren sich in Syrien als Wohltäter. (Screenshot)
Ausländische Dschihadisten inszenieren sich in Syrien als Wohltäter. (Screenshot)

 

Sie zeigt in der oberen Hälfte die erste Hälfte des islamischen Glaubensbekenntnisses: „Es gibt keinen Gott außer Gott.“ In der unteren Hälfte findet sich der Schriftzug „Mohammed ist der Prophet Gottes“, so wie er auf einem historischen Siegel Mohammeds zu finden war. (Es ist zugleich die zweite Hälfte des Glaubensbekenntnisses.)

Der „Islamische Staat“ hat also keine exklusive Beziehung zu irgendeinem Bestandteil dieser Flagge. Denn beide Aussagen gelten für alle gläubigen Muslime und sind inhaltlich weder dschihadistisch noch islamistisch konnotiert, sondern gehören schlicht zu den Grunddogmen des Islams. Sollte man eine solche Flagge also verbieten? Ist es in Ordnung, wenn der deutsche Staat das Zeigen des Siegels Mohammeds und eines Teils des islamischen Glaubensbekenntnisses untersagt?

Ein verzwicktes Problem. Denn diese spezielle Kombination verwendet tatsächlich nur der „Islamische Staat“; viele nicht-dschihadistische Muslime finden aber, dass der „Islamische Staat“ ihre Symbole gewissermaßen gehijackt hat – und dass ein Verbot durch westliche Staaten diesen Diebstahl allgemeingültiger muslimischer Symbole quasi legitimiert, indem es ihn als geglückt anerkennt, um die Flagge dann zu verbieten.

An diesem Dilemma zeigt sich übrigens das propagandistische Geschick des „Islamischen Staates“. Er verwendet eine Flagge, gegen die ein gläubiger Muslim eigentlich nichts einzuwenden haben kann – und dürfte sich so richtig freuen, wenn es durch ein Verbot zu Situationen kommt, in denen Muslime, die mit dem IS gar nichts zu tun haben, sich über das Flaggenverbot empören und womöglich sogar strafrechtlich verfolgt werden. Ganz sicher würde der „Islamische Staat“ das nämlich als Ausweis genereller Islamfeindlichkeit im Westen ebenfalls propagandistisch ausnutzen: Dort dürfen wir nicht einmal unser Glaubensbekenntnis zeigen!

Es gibt hier also eine Falle, in die man tappen kann.

Andererseits kann man auch nicht verhehlen, dass diese Flagge auch in Deutschland schon auf Demonstrationen aufgetaucht ist, bei denen man durchaus das Gefühl haben konnte, dass jene, die sie zeigten, sich diebisch freuten, weil sie eine legale Möglichkeit hatten, ihre Sympathie für den „Islamischen Staat“ auszudrücken.

Aber vielleicht gibt es einen Ausweg. Vielleicht würde es ja im ersten Schritt reichen, wenn das Innenministerium zunächst etwas zurückhaltender vorgeht und nur das Zeigen von solchen Flaggen verbietet, auf denen die Worte „Islamischer Staat“ auftauchen. Dann könnte man ja erst einmal abwarten, beobachten und auswerten, wie die Sympathisantenszene der Dschihadisten, die das Verbot ja treffen soll, reagiert. Einen zweiten Schritt kann die Regierung sich vorbehalten. Sie sollte sich jedenfalls nicht hetzen lassen. Augenmaß ist am Ende gewinnbringender als Aktionismus.

PS: Eine interessante und knappe Darstellung der Debatte um die Flagge und ihre historische Entwicklung findet sich in einem Blog Post von Aaron Zelin.

 

Was bedeutet die Ausrufung des Kalifats durch Isis?

Am gestrigen Sonntag, der nicht zufällig mit dem ersten Tag des Fastenmonats Ramadan nach dem islamischen Kalender zusammenfiel, hat die Terrorgruppe Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (Isis) offiziell das Kalifat ausgerufen. Die entsprechende arabische Audiobotschaft sowie eine von Isis selbst verbreitete englische Übersetzung liegen mir vor. Es ist nicht möglich, alle Fragen sofort zu beantworten, die dieser Schritt aufwirft. Aber etwas Klarheit kann man schon in die sich nun sicherlich überschlagende Nachrichtenlage bringen.

1.- Ist diese Erklärung authentisch? 

Ziemlich sicher: Ja. Die entsprechenden Links zu der Audiobotschaft und der schriftlichen Erklärung wurden zunächst über offizielle Isis-Accounts bei Twitter verbreitet und dann auf dschihadistischen Websites zum Download bereitgehalten, die auf diese Art von Publikationen spezialisiert sind und seit Jahren authentisches Material von Isis (und anderen dschihadistischen Terrorgruppen) weiterverbreiten. Außerdem passen der Inhalt, der Tonfall und nicht zuletzt die Reaktion der Isis-Sympathisanten. Eine absolute Sicherheit kann es zu diesem Zeitpunkt nicht geben. Aber ich bin mir hinreichend sicher.

2.- Was steht in der Erklärung? 

Die Erklärung stammt vom offiziellen Sprecher von Isis. Die Botschaft holt sehr weit aus und beginnt mit Beispielen aus der Lebensgeschichte des Propheten Mohammed und der frühislamischen Geschichte, die allesamt auf das Thema Führung der Muslime und Ausrufung eines Gemeinwesens oder Staates hinauslaufen. Ich werde mich damit noch ausführlicher auseinandersetzen, aber die Hauptpunkte sind folgende:

– Ab sofort besteht ein Kalifat. Der neue Kalif (beziehungsweise Imam, was in diesem Zusammenhang weltlicher und geistlicher Führer der Gläubigen bedeutet) ist Abu Bakr al-Baghdadi, der schon jetzt Chef von Isis war.

– Isis heißt ab sofort nur noch „Der islamische Staat“.

– Alle Muslime weltweit werden aufgefordert, Abu Bakr die Treue zu schwören.

– Allen existierenden muslimischen Staaten wird die Existenzberechtigung entzogen. Das Kalifat will seine Grenzen ausdehnen

– Die Verschiebung der Ausrufung des Kalifats sei nicht zu rechtfertigen, da die religionsrechtlichen Bedingungen gegeben seien

3.- Was ist ein  Kalifat? Was ist ein Kalif? 

Nach dem Tod des Propheten Mohammed begannen die ersten Muslime mehr oder weniger unmittelbar darüber zu streiten, wer nun die Gemeinde der Gläubigen und den Stadtstaat führen sollten, die Mohammed hinterlassen hatte. Historisch geschah Folgendes: Als erste setzten sich hintereinander drei Prophetengefährten durch, die diese Rolle übernahmen. Sie wurden (zum Teil erst rückblickend, aber das vernachlässigen wir hier) Kalifen genannt, von arabisch Khalifa = Nachfolger (gemeint ist allerdings als Führer der Gläubigen, nicht als Prophet). Der vierte Kalif war Ali, der Schwiegersohn und Neffe des Propheten. Weil der Prophet keinen Sohn hatte, war Ali und waren dessen direkten Nachfahren die engsten Blutsverwandten – für eine Gruppe früher Muslime, die „Partei Alis“ (woraus später die Schiiten wurde), konnten zukünftige Führer der Muslime nur aus dieser Linie stammen. Die meisten der übrigen Muslime (später: die Sunniten) befanden, es reiche, dass der Kalif jeweils aus dem Stamme des Propheten komme, den Kureish. Es ist aus diesem Grund, dass Isis-Chef al-Baghdadi seit Jahren den Namenszusatz „al-Kureishi“ führt. Er suggeriert damit (ob zu Recht oder Unrecht weiß niemand genau), dass er diese Bedingung erfüllt. Der Kalif muss nach sunnitischer Auffassung außerdem gesund und gebildet sein und die Zustimmung der meisten Rechtsgelehrten auf sich vereinigen. Er ist theologisch gesprochen fehlbar.

In der Geschichte folgte auf Alis Kalifat das Kalifat der Ommayaden – einer Untersippe der Kureish. Sie residierten in Damaskus und machten das Kalifat zur Erbsache. Ihnen folgten die Abbasiden in Baghdad, die wiederum eine andere Untersippe der Kureish repräsentierten. Nach dem Fall Bagdads 1253 regierten pro forma weiterhin abbasidische Kalifen, aber unter Fuchtel der Mamluken in Kairo. Es folgte nach dem Fall von Byzanz das Kalifat unter osmanischer Oberherrschaft, bis es schließlich 1924 abgeschafft wurde.

Das Kalifat ist dem Ideal nach das Zusammenfallen von Reich und Religionsgemeinschaft; das war es historisch allerdings fast nie, und fromm waren auch nicht alle Kalifen. Es gab immer wieder auch Gegenkalifate, einen einheitlichen, alle Muslime umfassenden Staat gab es nur in der sehr, sehr frühen muslimischen Geschichte.

In der dschihadistischen Ideologie, der Abu Bakr al-Baghdadi entspringt, ist das aber sowieso egal – denn Dschihadisten akzeptieren einen großen Teil der muslimischen Geschichte sowieso nicht als wahrhaft muslimisch. Dasselbe gilt für die islamische Theologie des Mainstreams. Die Ausrufung des Kalifats knüpft daher nur sehr bedingt an das Jahr 1924 an. Es ist eher ein Neugründung – Isis würde sich ganz sicher eher auf die ersten vier Kalifen (also bis einschließlich Ali) als Vorbilder berufen als auf irgendeinen Kalifen danach.

Die Ausrufung des Kalifats ist eine Provokation für viele fromme Sunniten, die mit der dschihadistischen Ideologie nichts am Hut haben. Es ist auch eine Herausforderung für jene muslimischen Führer, die sich ebenfalls als Nachfahren Mohammeds und der Kureish betrachten – das gilt insbesondere für die Könige von Jordanien und Marokko (nicht für die saudischen Könige, die beanspruchen das nicht).

4.- Was bezweckt Isis? 

Ich vermute, dass die Isis-Führung im Zuge ihrer jüngsten ja tatsächlich gewaltigen Ausdehnung im Irak das Gefühl bekommen hat, über genügend Sympathien und Rückhalt in der muslimische Welt zu verfügen, um diesen Schritt zu wagen. Vermutlich erhofft Isis sich, dass Stämme, kleinere Städte etc. in verschiedenen muslimischen Ländern nun ihren Anschluss an das Kalifat erklären. Das würde in diesen Staaten Chaos auslösen – und Chaos mag Isis, denn es bedeutet, dass keine Kapazitäten mehr zur Verfügung stehen, um Isis zu bekämpfen.

5.- Wie sind die Reaktionen? 

Bisher haben vor allem Sympathisanten reagiert und sich geäußert. In den sozialen Netzwerken und auf den dschihadistischen Websites mit angeschlossenen Internetforen herrscht Hochstimmung. Es wird allerdings auch massive Propaganda und Agitation betrieben. Wie und ob Regierungen muslimischer Staaten reagieren werden, muss man abwarten. Einige könnten versuchen, das Ganze zu ignorieren und/oder für lächerlich zu erklären. Andere dürften versucht sein, die Deklaration zum Anlass zu nehmen, um für eine massive (eventuell kriegerische) Bekämpfung von Isis zu werben.

6.- Was jetzt? 

Die nächsten Tage werden bedeutsam sein. Auch die Reaktion von Al-Kaida zum Beispiel spielt eine Rolle: Schluckt das Terrornetzwerk seinen Stolz hinunter und schließt sich al-Baghdadi an, obwohl Al-Kaida sich im Kriegszustand mit Isis befindet? Führt die Ausrufung des Kalifats zu einer neuen Welle von Freiwilligen, die sich nach Syrien und in den Irak aufmachen? Wie reagiert die internationale Staatengemeinschaft?

Sicher ist, dass Isis gestern ziemlich viel riskiert hat. Die Dschihadisten sind sehr selbstsicher; ich vermute aber, dass sie die Sympathien, die unter Muslimen für sie bestehen, überschätzen.

 

Nein, Messi wird nicht Amir von Südamerika

Das erste Opfer in jedem Krieg… genau. Auch im Irak ist es derzeit nicht anders, die Wahrheit wird passend gemacht, erfunden, geschönt und verkürzt – je nach dem, wer welche Interessen verfolgt. Das ist wenig überraschend. Trotzdem habe ich mir heute vorgenommen, ein paar Beispiele zu dokumentieren; nicht zuletzt weil manche Fakes es immer  wieder bis in die internationalen Mainstream-Medien schaffen. Vielleicht schärft das den Blick.

Fangen wir mit einem spektakulären Fall an. Gestern berichtete Ishaan Tharoor, der für die Washington Post bloggt, dass die Terrorgruppe „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien“ (Isis) dem argentinischen Stürmer Messi gratuliert habe, nachdem dieser mit seinem späten 1:0 den Sieg über Iran besiegelt hatte. Dies sei über ein Twitter-Account erfolgt, das aus dem Isis-Umfeld stamme („affiliated with Isis„). Tharoor dokumentierte den (arabischen) Tweet. Tatsächlich steht dort, man gratuliere Messi, er möge sich den „Schlachtreihen des Dschihad“ anschließen und könne „Amir über Südamerika“ werden. Wie man sich vorstellen kann, ging die Meldung rasch um die Welt.

Das Dumme ist, dass das Twitter-Account nicht aus dem Isis-Umfeld stammt. Man hätte schon deshalb drauf kommen können, weil in dem Tweet Isis als „Da’sh“ bezeichnet wird. Das ist ein Begriff, der sich in den letzten Monaten in der arabischen Welt etabliert hat – ein Kunstwort, das entsteht, wenn man die Anfangsbuchstaben des arabischen Namens von Isis zusammensetzt. Isis verwendet das Wort „Da’sh“ selbstverständlich nicht als Selbstbezeichnung.

Noch aufschlussreicher ist es allerdings, in die Selbstbeschreibung des besagten Twitter-Accounts zu schauen. Dort steht, das Anliegen des Accounts sei es, die „Verbrechen“ von „Da’sh“ zu thematisieren. „Affiliated“ ist das Account mit einer syrischen Webseite. Ich bin mir noch nicht ganz im Klaren, wie das passieren konnte. Aber noch absurder ist, dass der arabische Satellitensender Al-Arabija die vermeintliche Nachricht ebenfalls weiterverbreitete.

Etwas elaborierter finde ich da schon einen anderen Fake. Ebenfalls über Twitter wurde ein angeblich von Isis verfasstes Schreiben verbreitet. Es besagt, dass nach der Einnahme der Provinz Ninive im Irak, alle Familien ihre unverheirateten Frauen präsentieren müssten, damit diese den „Mudschahidin“ sexuell zu Diensten sein könnten. Der Ursprung des angeblichen Isis-Dokuments scheint ein Bericht auf der Webseite von AINA zu sein, der „Assyrischen Nachrichtenagentur“. Ich kenne AINA nicht. Aber es ist klar, dass es sich um eine Webseite assyrischer Christen handelt, die (natürlich und zu Recht) Angst vor Isis haben. Sagen wir so: Ich traue Isis alles mögliche zu, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt inklusive. Aber diese angebliche Erklärung ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Quark. Der Sprachgebrauch und der Duktus liegen weit jenseits dessen, was ich aus Dokumente von Isis und anderen dschihadistischen Terrorgruppen kenne, die ich selbst gelesen habe. Und das sind Tausende. Es passt schlicht nicht. Ich will damit nicht sagen, dass die Leute von AINA das Dokument erfunden haben. Vielleicht halten sie es wirklich für echt (auch wenn sie ehrlicherweise betonen, sie könnten die Authentizität nicht garantieren). Aber ich halte es  für eine Fälschung.

Andererseits betreibt natürlich niemand mehr Propaganda und Desinformation als Isis selbst. Mein Lieblingsbeispiel aus der letzten Woche ist das Bild eines Hubschrauber mit Isis-Flagge drauf, das in einem dschihadistischen Internetforum herumgereicht wurde und suggerieren sollte, die Dschihadisten hätten nicht nur Helikopter erbeutet, sondern könnten sie auch fliegen. Als ich darüber gewittert hatte, schickte mir jemand ein deutlich schärferes Bild desselben Helikopters – mit der Originalbeschriftung und Beflaggung der irakischen Luftwaffe. Es sieht also ziemlich klar danach aus, dass hier ein Isis-Sympathisant Fotoshop angewendet hat. Denn die beiden Bilder sind dasselbe Bild – aber eines wurde manipuliert.

Es gibt Hunderte solcher Fakes. Das Problem ist, wenn sie für wahr gehalten werden. So kursieren mehrere Landkarten des Nahen Ostens unter Isis-Anhängern, in denen das von Isis beanspruchte Gebiet schwarz eingefärbt und mit ihrer Flagge markiert ist – das zukünftige Kalifat. Solche Karten gibt es seit Jahren, von Al-Kaida-Anhängern fabriziert, von Sympathisanten von Isis‘ Vorläufergruppen – es ist ein alter Propaganda-Hut. Weiterverbreitet wurde aber letzte Woche eine Version dieser Karte mit dem Hinweis, es handle sich um den Fünf-Jahres-Plan von Isis. Huch! Und schon wird aus einer schnell hinretouchierten Karte plötzlich ein vermeintliches Dokument.

Als hätten wir nicht schon genug Schwierigkeiten, bei den wirklich von Isis stammenden Informationen herauszufinden, welche bedeutsam sind, welche die Wahrheit abbilden oder nur einen absichtsvoll gewählten Teil der Wahrheit, und welche gelogen sind. Auch dafür ein Beispiel: Isis meldet seit gestern mehrere Fälle, in denen Kader der verfeindeten Dschihadistengruppe „Dschabhat al-Nusra“ in Syrien sich Isis angeschlossen hätten. Es werden Namen genannt und entsprechende Bilder gepostet. Das könnte der Beginn einer bedeutsamen Entwicklung sein – oder ein paar aufgebauschte Einzelfälle. Zu früh, um es zu sagen. Und mühsam, es herauszufinden.

 

 

 

 

Isis oder Isil?

Wie soll man die Terrorgruppe Islamischer Staat im Irak und Großsyrien am besten abkürzen? Denn eine Abkürzung braucht sie, der Name ist schlicht zu lang, um ihn ständig in voller Länge zu verwenden. Das ist nicht verwerflich, sondern nur pragmatisch, und wir handhaben das (als Journalisten, aber auch als breitere Öffentlichkeit) ja nicht nur bei militanten Gruppen so (RAF, Hamas, etc.), sondern auch zum Beispiel bei CDU und SPD. Außer die Namen sind deutlich kürzer, so wie bei Al-Kaida oder den Grünen.

Im konkreten Fall beginnt das Problem schon bei der Übersetzung ins Deutsche, Englische oder Französische – oder genau genommen jede nicht arabische Sprache. Denn auf Arabisch heißt diese Terrorgruppe „al-Dawla al-Islamiyya fi al-Iraq wa al-Sham“. Das bedeutet wörtlich übersetzt: „Der Islamische Staat im Irak und al-Sham“. Das Problem ist das letzte Wort: Al-Sham (gesprochen: asch-Schaaaaam mit laaaaangem a; auf Französisch meistens als al-Cham transkribiert). Denn es gibt dafür mehrere mögliche Übersetzungen.

Die geschichtliche Herleitung ist zunächst einmal klar. „Bilad al-Sham“, also „die Gebiete von al-Sham“, bezeichnen im historischen Gebrauch des Arabischen die ehemaligen östlichen Provinzen des Byzantinischen Reiches, die im Zuge der islamischen Expansion unter islamische Herrschaft gerieten und zu einer Provinz zusammengefasst wurden. Die Etymologie ist nicht ganz unumstritten, aber die Mehrheit deutet es als Ableitung aus dem arabischen Wort für „Norden“. Umgangssprachlich wird al-Sham im Nahen Osten oftmals für das Land Syrien verwendet, aber auch als Synonym für die Hauptstadt Damaskus. Es schwingt dabei allerdings stets mehr mit als nur der Staat Syrien in seinen politischen Grenzen oder die Hauptstadt.

Gefühlt beschreibt al-Sham eigentlich immer jene Region, die von Damaskus aus dominiert wird beziehungsweise im kollektiven Gedächtnis von dort aus dominiert wurde. Der Libanon gehört dazu ebenso wie der nördliche Teil Jordaniens und Teile Palästinas. Eine scharfe Grenze um dieses Gedankengebilde al-Sham kann man daher nicht ziehen. Aber wenn eine dschihadistische Terrorgruppe den Begriff verwendet, ist jedem, der Arabisch spricht, klar, dass es nicht um den Staat Syrien und nicht um die Stadt Damaskus geht. Al-Kaida und Co. recyceln gerne historische Begriffe dieser Art, weil sie die gegenwärtigen Staatsgrenzen nicht akzeptieren: Khorasan für Afghanistan, Zweistromland für den Irak, Kan’an für den Sinai (plus Israel natürlich), Maghreb für Nordafrika (inklusive Andalusien, selbstverständlich), etc. Es geht hier also um die Region rund um Damaskus herum, so weit, wie man eben kommt – in Abgrenzung zu den Nachbarregionen Zweistromland, Palästina/Kan’an und al-Dschasira (die Arabische Halbinsel) sowie den türkischsprachigen Teil der Türkei.

Und wie übertragen wir den Begriff dann in eine nicht arabische Sprache? Entweder gar nicht – dann heißt die Terrorgruppe „Islamischer Staat im Irak und al-Sham“, und eine sinnvolle Abkürzung wäre ISIS. Oder wir übersetzen al-Sham mit Syrien – dann heißt die Gruppe ebenfalls ISIS. Deshalb kann man, wenn jemand ISIS schreibt, auch nicht immer gleich wissen, was genau er damit abkürzt.

Oder man übersetz al-Sham mit Levante – einem Begriff aus dem Italienischen, der die Region des östlichen Mittelmeeres beschreibt. Manche Journalisten und Terrorexperten finden, dass Levante ein angemessener Begriff ist, weil er ebenfalls eine gewisse Unschärfe in sich trägt und damit etwas transportiert, was die Übersetzung mit „Syrien“ nicht transportiert. Dann lautet die Abkürzung ISIL.

Ich habe mich für einen Eiertanz entschieden. Ich schreibe bei der ersten Erwähnung der Gruppe meistens „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien“, kürze ihn aber mit ISIS ab. Unlogisch, nicht wahr? Jawohl. Schuldig im Sinne der Anklage. Aber für mich transportiert der Begriff Großsyrien am besten das, was mit al-Sham gemeint ist. Ich habe ganz am Anfang, als ISIS sich so benannte, sogar dafür plädiert, als Abkürzung ISIGS zu etablieren. Ich konnte mich (kein Wunder) nicht durchsetzen. Mein Kompromiss ist also: Ich nutze dieselbe Abkürzung wie die meisten, die sich mit ISIS befassen – um Verwirrung zu minimieren und um zum Beispiel auf Twitter nicht mit dem Hashtag #ISIGS alleine dazustehen. Aber ich verwende den Begriff „Großsyrien“, weil ich ihn für treffender als Levante oder Syrien halte. Das hat damit zu tun, dass er in der historischen europäischen Literatur ziemlich lange ziemlich einheitlich verwendet wurde, im Englischen als Greater Syria. Sie dürfen das gerne anders handhaben. Es gibt keine Regeln. ISIS hat auch keine ausgegeben (und selbst wenn, müssten wir uns an die auch nicht halten.)

Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Menschen solche Abkürzungen, die man auch wie ein Wort aussprechen kann, auch gerne so aussprechen. Niemand sagt N-A-T-O. Alle sagen Nato. Und so wird (auch bei der ZEIT und ZEIT ONLINE) aus ISIS im nächsten Schritt Isis. Wie die ägyptische Göttin. Ich spreche allerdings in Vorträgen lieber I-S-I-S. Wenn ich Isis sage, kommt mir das immer vor wie eine ausgedachte Terrorgruppe aus einem James-Bond-Film.

Ein Letztes: Nichts auf der Welt schlägt die Penibilität deutscher Beamter. In einigen deutschen Sicherheitsbehörden heißt Isis deswegen abgekürzt IStIGS. Denken Sie kurz drüber nach; Sie kommen schon darauf, warum.

Soweit alles klar? Gut, dann haken wir jetzt noch schnell Dschabhat al-Nusra ab. Hä? Ja, genau. Dschabhat al-Nusra (der  offizielle Name ist noch länger, aber das lassen wir jetzt mal) bedeutet übersetzt: „Unterstützungsfront“. Das ist der Name der Dschihadistengruppe in Syrien, die sich Al-Kaida unterstellt hat und von Al-Kaida als die offizielle Filiale dort betrachtet wird. (Ursprünglich wurde sie von der Vorläufer-Organisation von Isis gegründet, aber auch das lassen wir an dieser Stelle mal aus).

Im Falle von Dschabhat al-Nusra ist das Problem zum Teil ein grammatikalisches: Oft bezeichnen Journalisten und selbst Experten die Gruppe verkürzt als „Nusra“. Das ist Quatsch. Denn das bedeutet „Unterstützung“. Wenn schon ein einzelnes Wort, dann besser „Dschabha“.  Haben Sie was gemerkt? Dschabha – und nicht Dschabhat! Das liegt am arabischen Genitiv. Den will ich hier nicht erklären, aber glauben Sie mir bitte: Wenn Sie das Wort Dschabha alleine verwenden, fällt in der Aussprache das -t weg.

Das zweite Problem bei Dschabhat al-Nusra ist die Abkürzung. Meistens wird international JN verwendet – wegen der englischen Umschrift des arabischen Buchstabens am Anfang des Wortes. Derselbe Buchstabe, mit dem auch Dschihad/Jihad beginnt. Daher kennen Sie das Problem vielleicht schon. Denn deutsche Zeitungen schreiben lieber „Dsch“ als „J“. International werden wir mit der Abkürzung „DschN“ aber nicht durchkommen. Also auch hier ein Kompromiss: Ich schreibe meistens „Dschabhat al-Nusra“, kürze aber JN ab. Auch hier gilt: Machen Sie es gerne anders.

Im Arabischen ist das alles naturgemäß etwas einfacher. Die meisten Araber, die ich kenne, sagen einfach „Dschabha“, und abgekürzt werden muss das auch nicht, ist auf Arabisch nämlich ein sehr kurzes Wort. Auch bei Isis haben sich die Araber was überlegt. Viele sagen „Da’ish“. Keine Sorge, Sie müssen das nicht. Auf Arabisch ergibt das aber Sinn. Das ist das Wort, das herauskommt, wenn man die arabischen Anfangsbuchstaben als ein Wort ausspricht. Also im Grunde nur die arabische Variante von Isis.

 

Das Wörterboarding des Innenministeriums

Dies ist eine kleine Geschichte über: eine Panne, eine ehrenwerte parlamentarische Praxis, die deutsche Sprache und Politik. Und zwar in genau dieser Reihenfolge.

Die Panne, um die es geht, ereignete sich im November 2013 auf dem Flughafen Köln/Bonn, von wo aus eine Frau in die Türkei reisen wollte, die 50 (leere) Magazine für das Sturmgewehr AK47 bei sich führte. Dieses besondere Gepäck fiel bei der Kontrolle auf. Aber die Frau wurde weder festgehalten, noch wurden die Magazine sichergestellt. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) berichtete zuerst über den Fall.

Der hätte natürlich nicht passieren dürfen, denn diese Art Gepäck fällt unter die einschlägigen Exportverbote, wenn man keine spezielle Genehmigung hat. Hinzu kam, dass die betreffende Frau die Mutter zweier polizeibekannter radikaler Islamisten ist, die sich wiederum in Syrien aufhalten. Es lag also nicht gerade fern, dass die Magazine etwas mit dem bewaffneten Kampf in Syrien zu tun haben könnten. Und wegen des Syrien-Embargos hätte die Ladung dorthin erst recht nicht geschafft werden dürfen. Trotzdem gelang es laut FAS derselben Dame, im Dezember auf demselben Wege noch einmal 187 Magazine außer Landes zu bringen.

Aber Pannen kommen vor. In diesem Fall handelte es sich dem Vernehmen nach um menschliches Versagen: eine Fehleinschätzung der Rechtslage. Mittlerweile läuft gegen die Dame ein Ermittlungsverfahren beim Generalbundesanwalt.

Dem Bundestagsabgeordneten Hans Christian Ströbele (Grüne), und jetzt kommen wir zu einer ehrenwerten parlamentarischen Praxis, ließ diese Meldung keine Ruhe. Er stellte daher eine mündliche Frage an die Bundesregierung. Er wollte wissen, wie die Bundesregierung es bewerte, dass die Dame weiterreisen durfte. Er wollte ferner wissen, ob diese „Duldung bzw. Unterstützung der Reisetätigkeit und des Waffentransports von möglichen V-Personen und deren Angehörigen“ gegen eine gemeinsame Linie aller Bundesländer verstoße, der zufolge mutmaßliche Dschihadisten auf dem Weg zu Kampfeinsätzen im Ausland eigentlich aufgehalten werden sollen.

„Von möglichen V-Personen und deren Angehörigen“: Ströbeles Frage zielte nicht nur auf eine mögliche Panne am Flughafen, vielmehr sollte sie die Bundesregierung dazu bewegen, sich darüber zu äußern, ob für „V-Personen“ von deutschen Geheimdiensten oder „deren Angehörige“ Sonderregeln gelten – ob also beispielsweise deren Ausreisen nicht unterbunden werden.

Interessante Konstruktion. Denn antwortet die Bundesregierung: „Ja, dann gelten jeweils eigene Regeln“, hätte Ströbele sie dazu gebracht, etwas offenzulegen, was sie sicher nicht offenlegen will. Und jeder würde außerdem sofort vermuten, dass die Dame und/oder ihre Söhne solche V-Personen sind.

So weit, so klar. Jetzt kommen wir zur deutschen Sprache. Beziehungsweise zur Antwort der Bundesregierung. Schön wäre es, die Bundesregierung würde sich bei der Beantwortung solcher Fragen an der gesprochenen Sprache orientieren. Tut sie aber leider nicht. Tatsächlich ist die Antwort eher ein Fall von Wörterboarding. Sie müssen jetzt stark sein.

Die Bundesregierung, hier vertreten durch den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Günter Krings, führt in der Antwort an Ströbele zunächst aus, dass sie leider keine weiterreichenden Informationen geben könne, da „der geschilderte Vorgang“ Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens sei. In mehr Worten: „Eine Auskunft hierzu könnte weitergehende Ermittlungsmaßnahmen erschweren oder gar vereiteln, weshalb aus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit folgt, dass das betroffene Interesse der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und Strafverfolgung hier Vorrang vor dem Informationsinteresse hat.“

Die Bundesregierung sagt also erst einmal gar nichts zum von Ströbele aufgemachten V-Mann-Fass; das war freilich zu erwarten. Wenig ist heikler als das Geschäft der Dienste mit Informanten, da wird in aller Regel weder bestätigt, noch dementiert. (Ich vermute allerdings, nach einigen Telefonaten „in Sicherheitskreisen“, die ich heute geführt habe, dass in diesem Fall niemand eine V-Person war.)

Danach allerdings kommt die Regierung auf die Panne zu sprechen. Oder besser gesagt: Staatssekretär Krings versucht, eine Panne als Panne zu beschreiben, ohne das Wort Panne zu benutzen. Ich gehe das mal Satz für Satz durch – und versuche, zu übersetzen:

„Unabhängig hiervon wurde der Sachverhalt unter rechtlichen wie tatsächlichen Gesichtspunkten nachbereitet.“

Wir haben noch mal über den Fall gesprochen.

„Bei Würdigung der heute vorliegenden und zusammengeführten Erkenntnisse ist festzuhalten, dass sowohl die Sicherstellung der mitgeführten Gegenstände, als auch die Untersagung der Ausreise rechtlich möglich ist.“

Uns ist dann klar geworden, dass man in so einem Fall das dubiose Gepäck sicherstellen darf. Auch die Weiterreise darf man in so einem Fall verhindern.

„Dieses Ergebnis resultiert aus dem heutigen Erkenntnisumfang, der zum damaligen Zeitpunkt nicht vollumfänglich vorlag.“

Hinterher ist man eben immer schlauer.

„Es bleibt festzuhalten, dass die Ausfuhr entsprechender Teile ohne Genehmigung verboten ist. Was die Ausfuhr entsprechender Gegenstände nach Syrien angeht, gilt ein generelles Ausfuhrverbot. Umfang und Art der Maßnahmen richten sich nach den konkreten Gesamtumständen des Einzelfalls.“

Aber natürlich wissen wir schon, dass man so etwas nicht ohne Genehmigung ausführen darf, schon gar nicht nach Syrien, da gilt ja zusätzlich noch das Embargo. Was man dann genau unternimmt, kommt aber immer auf den Einzelfall an.

„Bei vollumfänglichem Vorliegen aller Erkenntnisse wären neben der Ausreiseverhinderung die Sicherstellung der relevanten Gegenstände sowie die Einleitung eines Strafverfahrens in Betracht zu ziehen gewesen.“

Eigentlich hätten die Kontrolleure am Flughafen das wissen müssen. Sie hätten die Magazine sicherstellen und eine Ausreiseverhinderung sowie die Einleitung eines Strafverfahrens prüfen müssen.

113 Wörter um zu sagen: Hätte nicht passieren dürfen, war eine Panne, die Kollegen am Flughafen haben die gesetzlichen Bestimmungen falsch ausgelegt. Mir wäre ein Innenministerium lieber, das Fehler, die in seinem Zuständigkeitsbereich passiert sind, in klaren Worten eingesteht.

Jetzt noch ein Wort zur Politik. Eine der Hilfskünste der Politik ist nämlich die Rhetorik. Und im Gegensatz zum BMI beherrscht Ströbele diese Kunst:

„Aus der Antwort der Bundesregierung schließe ich, dass die Bundespolizei tatsächlich Dutzende von Kalaschnikow-Magazinen von den Grenzbehörden nur fest- statt sicherstellte. Das ist weder mit der Rechtslage zu vereinbaren noch aus womöglich geheimdienstlichen Gründen zu rechtfertigen. Offenbar billigt die Bundesregierung, dass geheimdienstliche Interessen Vorrang haben vor einer Gefahrenabwehr für die öffentliche Sicherheit in Deutschland und international. Wenn die Bundesregierung beklagt, wie viel deutsche Islamisten zum Kämpfen in Kriegsgebiete ausreisen, muss sie sie aufhalten statt „gute Reise“ zu wünschen.“

Was lässt sich daraus lernen? Wer keine klaren Antworten gibt, muss damit rechnen, dass der Fragesteller das zu seinem Vorteil nutzt.