Nach seiner zweiten Niederlage hatte Magnus Carlsen keine Lust mehr. Er hatte schon gegen den Deutschen Arkadij Naiditsch verloren und gegen den Kroaten Ivan Šarić. Und so trat er zur letzten Partie des norwegischen Teams bei der Schacholympiade am Donnerstag gegen Malaysia gar nicht mehr an. Er soll Tromsø, den Austragungsort, zu diesem Zeitpunkt sogar schon verlassen haben.
Dabei hatten sich alle so gefreut. Eine Schacholympiade im Land des Weltmeisters, des Schach-Models. Ganz Norwegen, so schien es, drängte sich um Carlsens Brett. Vor der Partie gegen Šarić kam sogar die norwegische Premierministerin Erna Solberg vorbei und machte den ersten Zug. Es half nichts. Zwei Niederlagen bei einer Schacholympiade, das war einem amtierenden Weltmeister noch nie passiert.
Das Team der Norweger landete am Ende nur auf einem enttäuschenden 29. Platz. Schon kam der Verdacht auf, Carlsen nehme das Turnier nicht ernst, bereite sich nicht gewissenhaft vor und spiele egoistisch. Doch stimmt das wirklich?
Die Schachfans sind in den vergangenen Jahren verwöhnt vom nahezu perfekten Spiel Carlsens. Ihre Erwartungen wurden mit jedem seiner Siege weiter nach oben geschraubt. Doch auch Magnus Carlsen kann nicht zaubern. Die meisten seiner Gegner bei dieser Olympiade gehören zur erweiterten Weltspitze. Und wenn die sich zu keinem Fehler hinreißen lassen und sehr vorsichtig agieren – schließlich geht es gegen den Weltmeister – ist es auch schwer für Carlsen, zu gewinnen.
Schon zu Beginn der Olympiade fragen sich einige, warum es dem stärksten Schachspieler der Welt nicht gelungen war, die Nummer 279 der Weltrangliste Tomi Nyback zu schlagen. Schließlich trennten die beiden gut 300 Elo-Punkte, beim Schach ein Klassenunterschied. Doch Nyback forcierte das Spiel, die Partie endete remis. Dass Carlsen wieder eine nahezu perfekte Partie gespielt hatte, ging inmitten der Verwunderung unter. Die Erwartungshaltung vieler ist eben nicht an die Leistung, sondern an den Erfolg gekoppelt.
Es wurde auch viel über Carlsens Experimentierfreudigkeit diskutiert. Hinter vorgehaltener Hand wurde ihm jene als Egoismus ausgelegt, da er sich ohne Rücksicht auf das Mannschaftsergebnis in neuen Dingen versuchte und so den Erfolg seines Teams gefährdete. In der Tat experimentierte Carlsen viel bei dieser Olympiade und geriet dadurch oftmals an den Rand einer Niederlage.
Besonders in den Runden fünf und sechs, als es mit Levon Aronian und Fabiano Caruana gegen die Nummer zwei und drei der Weltrangliste ging, stand Carlsen mehr als nur gefährdet, zum Teil gar auf Verlust. Viele Beobachter attestierten ihm Übermut, insbesondere bei der Eröffnungswahl gegen Caruana, als er zur skandinavischen Verteidigung griff. Diese genießt auf Topniveau zu Recht einen zweifelhaften Ruf und Carlsen kam schnell in Nachteil. Der Verdacht kam auf, er wolle seinen engsten Konkurrenten zeigen, er könne alles gegen sie spielen und verliere doch nicht. Besonders brisant ist, dass er tatsächlich aus den zwei Partien 1,5 Punkte mit den schwarzen Steinen erspielt hat.
Neuen Antrieb bekam die Ego-Diskussion nach der Partie gegen den Kroaten Šarić. Carlsen wählte eine selten gespielte Abfolge, die als sehr riskant gilt. Das Ergebnis war eine Niederlage gegen die Nummer 75 der Weltrangliste, der Weltmeister war komplett chancenlos. Dessen riskanter Partieanlage wurde mehr Aufmerksamkeit gewidmet, als der starken Leistung von Šarić. Und auch in dieser Partie wurde Carlsen unbedingter Siegeswille als Überheblichkeit und Desinteresse gesehen. Risikobereitschaft wird scheinbar nur dann positiv gesehen, wenn sie auch Erfolg bringt.
Besonders deutlich wurde dies nach der Partie gegen den polnischen Superstar Radosław Wojtaszek, derzeit die Nummer 26 der Welt. In den höchsten Tönen wurde Carlsens Spiel gefeiert, zu Recht. Der Weltmeister überspielte den Sekundanten seines WM-Gegners Vishwananthan Anand und ließ dabei die hohe Kunst der Leichtigkeit aufblitzen. Das Experiment war geglückt, die Lobeshymnen kamen prompt.
Die Unterstellung, Carlsen würde seine Gegner nicht ernstnehmen, läuft ins Leere. Der Weltmeister macht sich einfach seine Stärke zu Nutze, sich besser in unbekannter Stellung zurecht zu finden als andere. Darauf gründet sein Erfolg, warum sollte er das ändern? Ein Spieler dient seiner Mannschaft dann am besten, wenn er sich nicht verbiegt, sondern seinem Spielstil treu bleibt. Dass solche Experimente auch schief gehen können, ist ihm vollkommen bewusst und gehört zum Risiko.
Auf der einen Seite lieben die Schachfans Magnus Carlsen für seine Originalität. Dafür, dass er das Schach wieder belebt hat. Auf der anderen Seite wird er als überheblich bezeichnet, wenn seine Experimente angeblich zu weit gehen. Das ist ein Widerspruch. Ein Egotrip war sein Auftritt bei der Schacholympiade sicherlich nicht. Vielmehr hat Carlsen das gemacht, was er sonst auch tut: Verdammt gutes und vor allem außergewöhnliches Schach gespielt. Und verlieren? Ja, auch Magnus Carlsen darf das.