Ich stehe auf der Teilnehmerliste einer Weltmeisterschaft. Etwas, was ich später meinen Enkeln erzählen kann. Und das nicht irgendwo, sondern in Berlin, wo ich schon seit fast zehn Jahren in einer Mannschaft spiele, wo ich viele Freunde und sogar einige, ja, nennen wir sie Fans, habe, die mir vor Ort die Daumen drücken werden. Und ich bin zur Eröffnungsfeier eingeladen, bei der die Europapremiere des Films Pawn Sacrifice über das legendäre Match Fischer-Spassky in Reykjavík 1972 gezeigt wird. Ich werde gemeinsam mit Toby Maguire, Magnus Carlsen und Boris Spassky persönlich über den gleichen roten Teppich laufen. Eine Woche vor Beginn der Blitz- und Schnellschach-WM fehlen mir die Superlative, um meine Vorfreude angemessen zum Ausdruck zu bringen.
Wenn ich Fußball spielen würde, würde mir das nie passieren. Welcher, sagen wir, Viertligaspieler, hat schon die Ehre gegen Lionel Messi zu spielen? Im Schach geht das. Ich am Tisch mit Magnus Carlsen, ja, gibt’s das denn?
Am meisten freue ich mich darauf, mal wieder richtig vermöbelt zu werden. Ich bin zwar ein verhältnismäßig guter Spieler, aber Schach spielen in Deutschland gleicht einem Tiger im Käfig. Ich bilde mir ein, dass ich zur Jagd gehe, wenn ich, wie hier beschrieben, meine wehrlose Beute in Stücke reiße, in Wirklichkeit zerfetze ich dabei nur die Fleischbrocken, die mir die Wärter in meinen Käfig werfen. Mein Jagdinstinkt ist verkümmert, richtig gute Spieler kommen in diesen Breiten selten vor. Wenn man doch mal auf jemand gleichwertigen trifft, lässt man sich unter Alphatieren nur zu oft in Ruhe – Kurzremis nennt man das. Was in der vergangenen Bundesligasaison sogar gegen den mit aller Art Auszeichnungen und Trophäen gesättigten Weltklassespieler Étienne Bacrot geklappt hat, der um zehn Uhr morgens nicht die Notwendigkeit sah, mich zu zerfleischen und in Gewinnstellung einer Zugwiederholung zustimmte.
Bei der WM aber wird mir niemand etwas schenken. Es geht um bares Geld, und nicht einmal um so wenig. 40.000 Dollar gibt es für den Gewinner, jeweils. Die Konkurrenz wird unglaublich stark sein. Egal wer der oder die Sieger werden – Magnus Carlsen ist Titelverteidiger in beiden Disziplinen – ihr Weg wird auf jeden Fall mit Dutzenden Leichen der besiegten Widersacher gepflastert sein. Jeder kann jeden schlagen und wird auch genau das versuchen. Die Zeitnot wird besonders beim Blitzen riesige Mengen Adrenalin ausstoßen, es wird Streit geben, Regelverstöße und Reklamationen. Eine Partie wird am Ende für vierstellige Beträge ausschlaggebend sein können. Unter diesen Bedingungen habe ich keinerlei Gnade zu erwarten, sie werden mich einfach nicht für voll nehmen. Sie werden versuchen, sich an mir möglichst nicht mal die Pfoten schmutzig zu machen.
Ich, Ilja Schneider, werde in Berlin selbst das Fallobst sein, ein Outlaw, ein Vogelfreier, für den keine Gesetze gelten. Genau darauf freue ich mich so sehr. Ich werde es mir etwa leisten können, Eröffnungen zu spielen, von denen ich weiß, dass sie nichts taugen und von denen die anderen wissen, dass sie nichts taugen. Gegen Carlsens, Anands oder Adams‘ 1.e4-Aufschlag ist eisenhart Colorado (1…Sc6 2.Sf3 f5) geplant, ein ziemlicher Fetisch, über den ich einmal ein Buch schreiben wollte, bis mir aufgefallen ist, wie schlecht diese Eröffnung wirklich ist. Auch meine anderen obskuren Spezialitäten wie Trompowsky oder die Philidor-Verteidigung tauchen bei den Weltstars nur ganz selten in der Praxis aus – ich werde sie durchziehen.
Denn eigentlich kann ich nur gewinnen. Allein nur ein Sieg gegen Carlsen oder seinesgleichen würde mich mit einer Dosis Unsterblichkeit auszeichnen. Meine Mission beim königlichen Spiel könnte ich anschließend für beendet erklären. Doch auch im zweitbesten, schon etwas wahrscheinlicheren Fall werde ich nach der Schlacht wahrheitsgemäß behaupten können, ich hätte etwas substantiell neues über Schach verstanden, gelernt, rezipiert.
Ich werde nicht nur fünf Tage im gleichen Saal mit denen sitzen, mit denen ich mitfiebere, deren Schaffen ich sonst täglich über mehrere Stunden bei Liveübertragungen gebannt verfolge. Ich bekomme auch noch gratis einen Einblick, was die leblosen Fleischstücke fühlen müssen, wenn sie vom Tiger zerfleischt werden.