Je höher das Niveau, desto eher kommt es im Schach zum Remis. Man sieht dies aktuell in den ersten Runden in Chanty-Mansijsk, im vorigen WM-Duell zwischen Viswanathan Anand und Magnus Carlsen oder bei jeder anderen hochkarätigen Schachveranstaltung. Beim Kandidatenturnier im russischen Kasan 2011 wurde sogar in 27 von 30 Partien der Punkt geteilt. Der Großteil der Entscheidungen musste in Schnell- und Blitzschachstichkämpfen ausgefochten werden.
Nie zuvor hatten die schwarzen Verteidigungstechniken die weißen Angriffe so effektiv neutralisiert. Ob orthodoxes Damengambit, Berliner Mauer oder Halbslawisch – Schwarz schien mit jeder halbwegs sinnvollen Eröffnung das Spiel peu à peu ausgleichen zu können. Der Nachteil des Schwarzspielers, immer einen Zug hinterher zu sein, wenn beide Parteien das Zentrum besetzen, die Figuren entwickeln und die Könige in Sicherheit bringen, war offenbar kein Nachteil mehr. Das Schild war plötzlich genauso stark wie das Schwert. Zeigte sich darin eine Schwäche des Schachspiels?
Schon der legendäre Kubaner José Raúl Capablanca (Weltmeister 1921 bis 1927) sagte dem Schach einen „Remistod“ voraus, da in Zukunft immer mehr Partien ereignislos unentschieden enden würden. Es würde für Spieler und Zuschauer an Spannung verlieren, Turniersieger könnten nicht mehr gekürt werden. Da hatte einer gut reden, galt Capablanca doch während seiner Glanzzeit als praktisch unbesiegbar. Er verlor in seiner Karriere nur 36 Mal, lediglich 5 in seiner Glanzperiode 1914 bis 1927. Hätte es in der Weltspitze mehrere Spieler vom Format Capablancas gegeben, hätte er mit seiner pessimistischen Hypothese sicher Recht behalten.
Das Spitzenschach der damaligen Zeit war eher langweilig und remislastig. Es beherrschten nur einige wenige Spieler die Szene und außer brillanten Novatoren wie Aaron Nimzowitsch oder Richard Réti spielten sie immer die gleichen Eröffnungen – Spanisch und Damengambit, dazu ein bisschen Russisch und die Prototypen vom heutigen Slawisch und Sizilianisch. Vieles andere war als unseriös verpönt, auch durch den Einfluss zeitgenössischer dogmatischer Lehrwerke. Es gab nicht viel, was sich die Spieler zu merken brauchten und wissen mussten. Man erreichte auf den wenigen vorhandenen Fachgebieten schnell Expertise. Häufige Remisen waren da keine Überraschung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schien die Gefahr des Remistods zunächst gebannt. Begünstigt durch immer schnellere Möglichkeiten der Informationsverbreitung im Allgemeinen und durch analytische Arbeit in der Sowjetunion im Besonderen, entstanden im Schach neue Varianten und ganze Eröffnungssysteme. Viele davon waren schon vor dem Krieg bekannt, verloren aber jetzt ihren zweifelhaften Ruf. Neue Partien aus aller Welt wurden wöchentlich publiziert, der Horizont an Ideen erweiterte sich ständig. Die Spieler fingen an, sich riesige Arsenale an Waffen aufzubauen, um ihre Gegner zu überraschen und direkt in der Eröffnung anzugreifen. Gleichzeitig mussten sie sich vor dem Gleichen in Acht nehmen.
Das Spiel wurde komplexer. Schwarz musste immer mehr tun, um die Partie auszugleichen. Aber auch Weiß war mehr gefordert, um seine Hoffnung auf Eröffnungsvorteil zu erhalten. Das Spiel verlagerte sich aus dem Spielsaal immer mehr in die heimische Analysekammer. Das Gedächtnis stieß an seine Grenzen, die Partien wurden spannender und umkämpfter, die Fehlerquote stieg. Der Remistod schien vergessen. Vorerst.
Nun klopft er seit der Jahrtausendwende zum zweiten Mal an die Tür, er scheint entschlossener denn je. Und er ist nicht allein. Er hat seine treuen Helfer mitgebracht, die Fritz, Rybka, Houdini, oder Stockfish heißen: Schach-Engines, die auf einem durchschnittlichen Rechner auch Magnus Carlsen ins Schwitzen bringen. Für jedermann zugänglich durchleuchten und durchdringen diese Engines das Schachspiel erbarmungslos tiefer und gründlicher. Ähnlich wie wenn bei der Kanalisierung eines naturbelassenen Flusses dieser seine natürlichen Lebensräume einbüßt und dadurch viele Fisch- und Insektenarten aussterben, verliert auch das Schachspiel Mystik und Romantik.
Für manche Organismen wie die von mir geliebte Colorado-Eröffnung ist kein Platz mehr in dieser neuen Welt, da sich jeder Vereinsspieler mit wenig Aufwand von Houdini zeigen lassen kann, warum sie nicht funktioniert. Andere Urarten wie das Königsgambit, die älteste Eröffnung überhaupt, sind stark bedroht und müssen von „Artenschutzprogrammen“ am Leben erhalten werden. Das Spiel bekommt einen deterministischen Einschlag, man wird gezwungen, auf den Kanälen zu fahren, die nirgendwo anders als im Remishafen münden können. Nie war es so schwer, mit Schwarz gegen einen schlechteren Spieler zu gewinnen als heute. Nie war das Risiko so groß, das man auf sich nehmen muss, um dieses Ziel zu erreichen. Viele Spieler meiden es.
Bei manchen nimmt dieses Bestreben schon beinahe pathologische Züge an, im modernen Schach ist der ungarische Großmeister Peter Leko (immerhin WM-Herausforderer 2004) das Sinnbild für übertriebene Friedfertigkeit. Über seine Karriere hinweg waren für ihn Turnierergebnisse mit einem Sieg und zehn Remisen keine Seltenheit.
Um dem Remistod zu entgehen, hat die Schachwelt schon einige Regeln geändert: Man hat die Bedenkzeit in den Turnierpartien verkürzt, um künstlich die Fehlerquote zu erhöhen. Man hat massiv in die Entscheidungsfreiheit der Spieler eingegriffen, indem man ihnen in den ersten 30 oder 40 Zügen oder auch während der ganzen Partie einen Remisschluss ohne Zustimmung des Schiedsrichters untersagt. Man richtet, wie im Fußball, Turniere nach der 3-Punkte-Regel aus, die unter dem Vorwand, dem Zuschauer zu dienen, extraordinäre Risiken belohnt und objektives, korrektes Spiel bestraft. Sonderregeln wie Rochade oder Patt stehen auf dem Prüfstand. So wurde mehrfach vorgeschlagen, diverse Wertungen wie Patt- oder Beraubungssieg einzuführen und so die Punkteskala zwischen 0 und 1 auszuweiten. Es gibt sogar Leute, die die ersten zwei Züge oder gleich die ganze Figurenaufstellung vor der Partie auswürfeln wollen.
Viele halten solche Schritte für notwendige Zugeständnisse, damit (Spitzen)-Schach auch im 21. Jahrhundert noch ein spannendes, fesselndes Spiel bleibt. Demgegenüber steht das Lager derer, die Schach als traditionelles Kulturgut schützen und vor Änderungen bewahren wollen. Sie fürchten, dass solche Maßnahmen das Schach entwerten oder es bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Auch dieses Duell scheint auf ein Remis hinauszulaufen.