Überraschung in Chanty-Mansijsk! Am heutigen Dienstag ging die fünfte Runde des Kandidatenturniers zu Ende, die Tabelle beginnt, sich zu sortieren. Mit 3,5 Punkten aus fünf Partien ganz vorne ist Viswanathan Anand, der Ex-Weltmeister, ältester Teilnehmer und noch vor einer Woche nicht mehr als ein Außenseiter. Seine Ergebnisse nach dem Verlust der WM-Krone im November gegen Magnus Carlsen waren äußerst mager. In Zürich wirkte der „Tiger von Madras“ lustlos und ausgelaugt. Bei einem Zwischenstopp für seinen Verein OSG Baden-Baden in der deutschen Schachbundesliga Ende Februar errang er mit Mühe einen Sieg gegen Österreichs Nummer 1, Markus Ragger. Am nächsten Tag ließ er sich vom Polen Piotr Bobras, der in der Weltrangliste 586 Plätze unter Anand rangiert, ohne Kampf ein Remis abnehmen.
Nun muss sich die Schachwelt fragen, ob sie sich in Anand wieder einmal getäuscht, ihn ein weiteres Mal zu früh abgehakt hat. Eigentlich war es mit „Vishy“ nie anders als jetzt, dass er erst dann aufwacht aus seiner scheinbaren Lethargie, wenn es ums große Ganze geht. Auch bei seinen WM-Zweikämpfen 2010 und 2012 gab es viele, die dem Inder einen erneuten Sieg nicht mehr zugetraut hatten. Genauso wie heute machten sie an Anands Ergebnissen in den Turnieren zuvor eine vermeintlich schlechte Form des Titelverteidigers fest. Anand strafte sie in beiden Fällen Lügen und schlug sowohl Topalow als auch Gelfand. Die letzte Runde gegen Topalow ist eines der Meisterwerke von Anands Karriere.
Wie schafft Anand es jedes Mal, so gezielt in Form zu kommen? Und warum spielt er den Rest des Jahres so mäßig?
Es liegt die Vermutung nahe, dass es Anand in der Zeit vor wichtigen Wettbewerben weniger an Form als an Motivation mangelt. Als einer der ältesten Spieler in der Weltspitze gibt es wenig, was Anand nicht schon gesehen oder erlebt hat. Er hat schon in den Neunzigern mit Karpow und Kasparow die Klingen gekreuzt, den legendären Bobby Fischer auf Island besucht und mit ihm dort bei McDonalds gegessen. Die meisten großen Turniere hat er mehrfach gewonnen, und das Finanzielle sollte ihn, den Zugehörigen der höchsten Kaste der Brahmanen, schon damals nur am Rand interessiert haben. Auf einen ersten Platz mehr oder weniger kommt es ihm nicht mehr an. WM-Titel sind das Einzige, was ihn noch anspornt.
Seine WM-Erfolge bereitet Anand so diszipliniert wie kein anderer vor. Mit seinen langjährigen Freunden und Sekundanten Ganguly, Sandipan und Harikrishna aus seinem Heimatland und dem jungen polnischen Star Wojtaszek hat er sich in den vorigen Jahren das (vielleicht neben Kramnik und Aronjan) am meisten verzweigte und ausgetüftelte Eröffnungsrepertoire erarbeitet, das in seiner Komplexität an Osama Bin Ladens Höhlensystem Tora-Bora erinnert. An jeder Ecke wartet ein Hinterhalt auf den Eindringling, wie zum Beispiel Wladimir Kramnik 2008 in Bonn in der dritten und fünften Partie feststellen durfte.
Die meisten Ecken des Labyrinths kommen aber nie ans Tageslicht, genauso diszipliniert wie er sie ausarbeitet, hält Anand seine Errungenschaften geheim und bewahrt sie für die wichtigen Momente im Leben. So sind die Zeiten im Schach heute, es ist nicht mehr möglich, eine Idee zu finden, die einen über Jahre ernährt, wie die Sveschnikow-Eröffnung in den Siebzigern ihren Urheber. Die meisten neuen Ideen leben vom Überraschungseffekt und sind nach ihrer Verwendung so wertvoll wie ein angezündetes Streichholz.
Gegen Carlsen war die Arbeit vor dem WM-Kampf umsonst. Der junge Norweger ließ ihn kein bisschen demonstrieren, wie gut er vorbereitet war. Aber die Fallstricke, die hinter den Kulissen geblieben sind, sind noch lange nicht schlecht. Ihre Effektivität sehen wir in diesen Tagen. Gegen Aronjan hat Anand in Chanty-Mansijsk in einer als harmlos geltenden Spanischen Variante der Stellung wieder Leben eingehaucht und gewonnen, gegen Topalow durch ein neuartiges Bauernopfer mit Schwarz sofort ausgeglichen. Gegen den Underdog Mamedyarow aus Aserbaidschan waren keine Knalleffekte nötig, sondern nur einfaches, schnörkelloses Schach. Der als Hitzkopf bekannte Mamedyarow hat seine Stellung schnell selbst zerlegt. Gegen seinen Dauerrivalen Wladimir Kramnik folgte ein spektakulär wirkendes Remis, in dem beide offensichtlich nur ihre Vorbereitung abglichen. Beide haben schnell gemerkt, dass der andere genauso viel über die Wiener Variante wusste wie man selbst. Wenn der Gegner perfekt spielt, kann man eben nicht gewinnen. In der heutigen Runde nahm Andrejkin Anand ein weiteres Remis ab, was aber auch den meisten anderen Favoriten gegen den Russen passieren wird, wenn er die weißen Steine führt. Mit denen verweigert der jüngste Teilnehmer im Feld bisher jeden Konfrontationskurs.
Man merkt Anand an, dass er wieder aufblüht, dass er es noch einmal wissen will. Eloquent und unterhaltsam präsentiert er sich bei den Pressekonferenzen, scheint sich auf seine nächsten Aufgaben zu freuen. Bis zum Gesamtsieg ist es noch ein langer Weg, das weiß er besser als jeder andere. Der Rückkampf gegen Carlsen, die WM-Revanche, ist zumindest wahrscheinlicher als vor dem Turnier. So viel lässt sich sagen: Anands Lust auf Schach, die ihm Carlsen zwischenzeitlich endgültig genommen zu haben schien, ist zurückgekehrt.