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Wie Magnus Carlsen das Schach verändert

 

Magnus Carlsen ist Weltmeister und der Spieler mit der höchsten Wertungszahl, die im Schach je erreicht wurde. Aber seine Partien wirken oft erstaunlich anspruchslos. So einfach und unspektakulär, dass man nicht genau weiß, wie und warum er gewonnen hat. Oft verlaufen diese Partien nach einem Muster: Nach ruhiger Eröffnung und Abtausch einiger Figuren, nicht selten auch der Dame, entsteht eine harmlose, ausgeglichene Stellung, in der beide Seiten kaum Gewinnchancen zu haben scheinen. Bislang war sich die Weltelite in solchen Situationen schnell einig: Die Stellung ist Remis und viel zu einfach, um dem Gegner Schwierigkeiten zu bereiten – warum Zeit und Mühe mit dem Weiterspielen verschwenden? Doch Carlsen spielt solche Stellungen weiter. Und findet Möglichkeiten, die andere nicht finden.

Bald ändert sich die Stellung dann wie von Zauberhand. Zugunsten von Carlsen. Eben noch sicher stehende Bauern scheinen bedroht, solide Strukturen wirken anfällig, unerwartete Drohungen tauchen auf und überall lauert plötzlich Gefahr. Der Gegner muss Entscheidungen treffen, die immer schwerer werden. Die klare Remisstellung wirkt auf einmal nicht mehr so klar, der halbe Punkt rückt immer weiter in die Ferne. Man bekommt ihn noch, nur, wenn man gut spielt. Stundenlang. In unangenehmer Stellung. Mit dem Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, aber nicht zu wissen, was und wo.

Immer wieder brechen Carlsens Gegner unter diesem Druck zusammen. Oft beginnen sie die Partie schon eingeschüchtert, denn sie wissen, Siegchancen haben sie gegen Carlsen kaum, und Remis bekommen sie nur nach langer Verteidigung undankbarer Stellungen.

Mit diesem Stil hat Carlsen viele wichtige Punkte erzielt. Zum Beispiel gegen Teimour Radschabow in der vorletzten Runde des Kandidatenturnier 2013 in London. Vor dieser Partie lag Carlsen einen halben Punkt hinter Wladimir Kramnik zurück, und um das Turnier zu gewinnen und das Recht zu bekommen, gegen Viswanathan Anand um die Weltmeisterschaft zu kämpfen, musste Carlsen gegen Radschabow gewinnen. Mit Schwarz. Viele Spieler hätten in dieser Situation zur Brechstange gegriffen und riskant auf Gewinn gespielt, doch Carlsen blieb sich treu. Was er zwischenzeitlich vielleicht bereut hat, denn nach dem 51. Zug von Weiß stand folgende Stellung auf dem Brett.

T. Radschabow – M. Carlsen, London 2013, Stellung nach 51.Sb3

Ein klarer schwarzer Gewinnplan ist in dieser Stellung bei bestem Willen nicht zu sehen. Weiß hat eine einzige wirkliche Schwäche, den c-Bauern, aber der ist gut gedeckt. Doch im weiteren Verlauf der Partie stellte Carlsen Weiß immer wieder vor Probleme und auf der Suche nach einem klaren Remisweg verbrauchte Radschabow viel Zeit. Mit nur noch wenigen Minuten auf der Uhr unterlief ihm dann ein entscheidender Fehler und er verlor:

51…Ke5 52.Lf1 a5 53.Le2 Le6 54.Lf1 Ld7 55.Le2 La4 56.Sd4 Sc5 57.Kb2 Le8 58.Kc3 Lf7 59.Sc6+ Kd6 60.Sd4 Sd7 61.Sb5+ Kc5 62.Sd4 Se5 63.Sb3+ Kc6 64.a4 Kd7 65.Sd4 Kd6 66.Sb5+ Kc5 67.Sd4 Le8 68.Sb3+ Kd6 69.c5+ Kc7 70.Kd4 Sc6+ 71.Kc3 Se7 72.cxb6+ Kxb6 73.Sd2 Lxa4 74.Sc4+ Ka6 75.Sa3+ Kb7 76.Sc4 Ka6 77.Sa3+ Ka7 78.Kd4 Sc6+ 79.Kc5 Se5 80.Sc4 Sd3+ 81.Kd4 Sc1 82.Lf1 Lb5 83.Sxa5 Lxf1 84.Sc6+ Kb6 85.Se7 Sd3 86.Sxg6 Kc7 87.Se7 Lh3 88.Sd5+ Kd6 89.Sf6 Lg4

Weiß gab auf

Da Kramnik trotz guter Stellung in der gleichen Runde gegen Boris Gelfand nicht über ein Remis hinauskam, lagen Carlsen und Kramnik vor der letzten Runde des Kandidatenturniers punktgleich an der Spitze der Tabelle. Zu viel für die Nerven. Beide, Kramnik und Carlsen, verloren in der Schlussrunde und wurden mit 8,5 Punkten aus 13 Partien punktgleich Erster. Aber da Carlsen mehr Partien gewonnen hatte als Kramnik, wurde er zum Turniersieger erklärt und durfte gegen Anand um die Weltmeisterschaft spielen.

Auch da gewann der Norweger die fünfte und sechste Partie aus scheinbar einfachen, ausgeglichenen Stellungen heraus und sorgte so nach verhaltenem Auftakt unerwartet rasch für eine Vorentscheidung im Wettkampf, den er am Ende mit 6,5:3,5 für sich entschied und so neuer Weltmeister wurde.

Auf den ersten Blick wirken viele von Carlsens Siegen so, beinahe langweilig. Außerdem scheinen sie oft unverdient und zufällig zu sein, weil sie nicht durch brillantes Spiel, sondern durch Fehler des Gegners zustande gekommen sind. Fehler, auf die Carlsen geduldig zu warten scheint, während er selbst wenig unternimmt.

Dieser Eindruck täuscht. Denn Carlsen kann gegen die besten Spieler der Welt nur deshalb so spielen und gewinnen, weil er selbst kaum Fehler macht und alle Techniken des Schachs beherrscht: Er rechnet tief, genau, präzise und oft einige Züge tiefer als sein Gegner. Er verteidigt sich zäh, hat im Laufe seiner Karriere schon viele spektakuläre Opfer gebracht, kennt die wichtigen Partien der Schachgeschichte und scheint immer zu wissen, wo die Figuren richtig stehen.

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Magnus Carlsen nach dem Gewinn des Weltmeisterschaftskampfes gegen Anand © Babu/Reuters

Was Carlsen jedoch auszeichnet, ist das spielerische Element. Er sucht in der Eröffnung nicht nach der absoluten Wahrheit in verzweigten, bis ins Endspiel analysierten Varianten der Sizilianischen oder der Slawischen Verteidigung, er will keine Varianten auswendig lernen, sondern Schach spielen. So gelang es ihm im WM-Kampf gegen Anand immer wieder, die Eröffnungsvorbereitung seines Gegners zu unterlaufen, theoretischen Duellen auszuweichen und den Kampf ins Mittel- und ins Endspiel zu verlagern. Wie gefährlich gut Anand vorbereitet war, sieht man jetzt im Kandidatenturnier in Chanty-Mansijsk, in dem Anand seine Gegner mehrfach gleich in der Eröffnung unter Druck setzen konnte.

Carlsen will Schach spielen, weil ihm Schach Spaß macht. Er ist fit, weil er gerne Sport treibt. Und er will jede Partie gewinnen. Durch diese Mischung aus Lust am Spiel, sportlichem Ehrgeiz und einem phantastischen Schachgefühl findet er auch nach stundenlangem Spiel immer wieder überraschende Möglichkeiten.

Hier ein Beispiel aus einer Partie gegen Sergei Karjakin aus dem Tata Steel Turnier in Wijk aan Zee 2013:

M. Carlsen – S. Karjakin, Wijk aan Zee 2013, Stellung nach 66…Tb1

Karjakin wurde wie Carlsen 1990 geboren und hält einen Rekord, den Carlsen nicht mehr brechen wird: Er wurde 2002 im Alter von zwölf Jahren und sieben Monaten der jüngste Großmeister aller Zeiten. Zurzeit liegt er auf Platz neun der Weltrangliste und sein Talent zeigte sich auch daran, dass er 2012 mit einem halben Punkt Vorsprung auf Carlsen Schnellschachweltmeister wurde. Doch generell stand Karjakin seine gesamte Karriere hindurch im Schatten von Carlsen, der stets ein wenig erfolgreicher war.

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Sergei Karjakin, jüngster Großmeister aller Zeiten © dpa

In der obigen Stellung scheint sich Karjakin nach einigen schwierigen Momenten ins Remis gerettet zu haben. Beide Seiten haben noch fünf Bauern und Weiß scheint keine Fortschritte machen zu können. Die Experten, die die Partie kommentierten, rechneten hier mit einem baldigen Remis.

Doch Carlsen überraschte sie mit 67.g4!. Damit leitete er ein doppeltes Bauernopfer ein, um die schwarzen Bauern angreifen und den schwarzen König bei Gelegenheit Matt setzen zu können. Karjakin fand keine Verteidigung und verlor nach folgenden Zügen:

67…hxg4 68.h5 Th1 69.hxg6 fxg6 70.Te6 Kh6 71.Ld5 Th2+ 72.Kg3 Th3+ 73.Kxg4 Txd3 74.f5 Te3 75.Txg6+ Kh7 76.Lg8+ Kh8 77.Kf4 Tc3 78.f6 d3 79.Ke3 c4 80.Le6 Kh7 81.Lf5 Tc2 82.Tg2+ Kh6 83.Txc2 dxc2 84.Lxc2 Kg5 85.Kd4 La3 86.Kxc4 Lb2 87.Kd5 Kf4 88.f7 La3 89.e6 Kg5 90.Kc6 Kf6 91.Kd7 Kg7 92.e7

Schwarz gab auf

Auch beim aktuellen Kandidatenturnier in Chanty-Mansijsk ist Carlsens Rivale Karjakin dabei. Nach sechs Runden lag er mit fünf Remis und einer Niederlage auf dem vorletzten Platz. Drei dieser fünf Remispartien gab Karjakin kurz nach dem 30. Zug Remis, eine weitere Partie war schon nach 26 Zügen durch Zugwiederholung friedlich beendet. Eigentlich sind in Chanty-Mansijsk 30 Züge das vorgeschriebene Minimum, vorher dürfen die Spieler kein Remis vereinbaren.

Carlsen braucht solche Regeln nicht. Mit seiner spielerischen Einstellung bereichert er das Schach. Seine Art, Schach zu spielen, wirkt befreiend. Besonders in Zeiten, in denen die Spielstärke der Computer suggeriert, Schach sei einfach und umfassende Eröffnungsvorbereitung ein Muss für Profis und Amateure. Carlsen dagegen beweist, einfache Stellungen sind nicht einfach, und man muss nicht in der Eröffnung Erfolg haben, um Erfolg zu haben.