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Wenn das Gehirn streikt

 

Die Wohnungstür schließen, obwohl der Schlüssel noch auf dem Küchentisch liegt? Vergessen, wo das Auto steht? Die neue Bekannte beim zweiten Date mit dem Namen der Ex-Freundin begrüßen? Beim Schach spricht man bei solchen Pannen im Gehirn von Schachblindheit. Man übersieht das Offensichtliche und macht einfache, aber verhängnisvolle Fehler. Schachblindheit hat Weltmeisterschaften gekostet, Träume zerstört und viel Kummer verursacht. Sie kann jeden treffen, ob Weltmeister, Großmeister oder Landesligaspieler. Wie man beim Kandidatenturnier in Chanty-Mansijsk gesehen hat.

Zum Beispiel in Runde zehn in der Partie zwischen Wladimir Kramnik und Peter Swidler. Kramnik, der als einer der Favoriten ins Turnier gestartet war, musste diese Partie unbedingt gewinnen, um sich noch letzte Hoffnungen auf den Turniersieg machen zu dürfen.

Am Anfang lief noch alles gut für Kramnik. Er hatte Weiß und setzte Swidler aus der Eröffnung heraus kontinuierlich unter Druck. Dann kam es zu folgender Stellung.

Swidler hatte soeben 31…Sb6 gespielt und den weißen Turm auf c4 angegriffen. Hier hätte Kramnik den Springer mit 32.Sd4 zurückziehen müssen, aber stattdessen spielte er 32.Td4??. Ein grobes Versehen. Swidler ließ sich nicht lange bitten, spielte 32…Lxh2+ 33.Kxh2 Dxf1 und Weiß stand vor den Trümmern seiner Stellung. Sechs Züge später gab Kramnik auf und musste sich von seinen Träumen vom Turniersieg, einem Weltmeisterschaftskampf gegen Magnus Carlsen und seiner Rückkehr auf den Weltmeisterthron verabschieden.

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Wladimir Kramnik, Weltmeister von 2000 bis 2007 (Foto: Eteri Kublaschwili)

Warum unterlaufen Spitzenspielern solche Fehler? Und was kann man dagegen tun? Tja, wenn man das wüsste. Computer machen keine groben Fehler, Menschen schon. Auch die besten Spieler der Welt berechnen nicht alle Möglichkeiten, zwanzig Züge und mehr fehlerfrei im Voraus. Sie machen es wie alle anderen Schachspieler: Sie schauen sich eine Stellung an und ihnen fallen Züge ein. Intuitiv. Je besser die Spieler, desto besser die Einfälle. Gerechnet wird erst danach. Spitzenspieler rechnen erstaunlich präzise und tief, aber vor allem rechnen sie die richtigen Züge.

Diese Intuition speist sich aus Mustern, die sich Schachspieler im Laufe ihrer Karriere angeeignet haben. Sie haben Tausende von Partien gespielt und analysiert, kennen eine Vielzahl taktischer Motive und wissen, wann Figuren und Bauern harmonieren und wann der Läufer besser ist als der Springer. Dieses Wissen ist weitgehend unbewusst und wird während einer Partie intuitiv aktiviert. Durch dieses Repertoire an Mustern kann Carlsen zehn Partien gleichzeitig blind, ohne Ansicht des Bretts, spielen und macht beim Blitzen mit nur 30 Sekunden Bedenkzeit für die ganze Partie oft bessere Züge als ein Amateur mit zwei Stunden Bedenkzeit. Ohne lange nachdenken zu müssen, spielt Carlsen in Stellungen, in denen schwächere Spieler schon ins Grübeln kommen, deshalb sekundenschnell einen guten Zug nach dem anderen.

Natürlich klappt das nicht immer. Das scheinbar so rationale Spiel hat eine große irrationale Komponente. Wichtig sind Einstellung, Tagesform, Befindlichkeit und Selbstvertrauen. Wer sich glaubt, wer denkt, besser zu spielen als der Gegner, der sucht nach Zügen, die das bestätigen – und findet sie leichter, wenn es sie gibt. Wer an sich zweifelt, wer nur an die drohende Niederlage denkt, weil der Gegner übermächtig scheint, der zieht solche guten Möglichkeiten oft gar nicht in Betracht.

Ein kleines Gedankenspiel: Angenommen, Kramnik würde bei einer Simultanveranstaltung mit Schwarz gegen einen Amateur spielen und er und sein Gegner wären der Partie Kramnik gegen Swidler bis zum fatalen Fehler Zug für Zug gefolgt. Wahrscheinlich hätte sich der Ex-Weltmeister gewundert, dass sein Gegner so gut spielt, aber der Zug 32.Td4 hätte ihn nicht allzu sehr überrascht. Denn irgendwann, das weiß Kramnik aus Erfahrung, machen schwächere Spieler Fehler. Wie Schwarz danach gewinnt, hätte Kramnik sofort gesehen, solche taktischen Tricks beherrschte er schon als kleiner Junge.

Doch gegen Swidler ließ Kramnik seine Intuition im Stich. Was er sich bei 32.Td4 gedacht hat, weiß nur Kramnik selbst. Wenn überhaupt. Mit klarem Kopf wäre ihm ein solcher Fehler nie passiert. Vielleicht hat Kramnik die schwarzen Gegenchancen unterschätzt, weil Schwarz sich die ganze Zeit verteidigen musste. Vielleicht war auch der Druck der Turniersituation zu groß.

Solche Fehler passieren im Schach oft. In beinahe jedem großen Turnier. Eines der bekanntesten Beispiele liegt allerdings schon einige Zeit zurück. 1951 saß der holländische Meister Jan Hein Donner seinem Landsmann Eduard Spanjaard gegenüber. War bei Kramnik wohl die zu große Anspannung ein Problem, war es in diesem Fall Sorglosigkeit. Ein typisches Beispiel dafür, dass man beim Schach bis zum Schluss aufpassen muss.


J.H. Donner – E. Spanjaard, Wageningen 1951, Weiß am Zug

Weiß steht auf Gewinn. Offensichtlich. Er hat einen Läufer mehr und es sollte nicht mehr lange dauern, bis der h-Freibauer die Partie entscheidet. Der weiße König steht zwar etwas exponiert, aber wirklich bedrohlich wirken die wenigen noch verbliebenen Figuren des Schwarzen nicht.

Das machte Donner leichtsinnig. Ohne in Zeitnot zu sein spielte er 42.Tha7??. Keine gute Idee. Denn nach der schwarzen Antwort 42…Th1+ 43.Kxh1 Kg3 kann Weiß das Matt nicht mehr vermeiden. Dieses Beispiel zitiert der holländische IM Willy Hendriks in seinem Buch Move First, Think Later, in dem er untersucht, wie Schachspieler denken. Wie Hendriks schreibt, nahm Donner die überraschende Wendung der Dinge philosophisch. Als er aufgab, sagte er zu seinem Gegner: „Ja, Eduard, so etwas kann passieren.“