Seit einigen Jahren sind sie Teil der Schachübertragungen im Internet: Enginebewertungen, also Angaben einer allwissenden Maschine darüber, wie es gerade in der Schachpartie steht. Dargestellt werden diese durch kryptische Zahlen in der Partienotation. Als ob für einen Laien 24.Sbxd4 noch nicht verworren genug aussieht, steht neuerdings auch noch 0.35 daneben. Das bedeutet, dass Weiß in dieser Stellung einen leichten Vorteil besitzt, etwa ein Drittel Bauerneinheit. -1.03 würde gut eine Bauerneinheit für Schwarz anzeigen, Weiß müsste anfangen, sich Sorgen zu machen.
Meist sind diese Bewertungen noch graphisch über den gesamten Partieverlauf gesehen dargestellt. In jeder Stellung werden unabhängig davon, welcher Zug tatsächlich gespielt wurde, die drei besten Vorschläge des Rechners angezeigt, inklusive Varianten, wie es weitergehen könnte und entsprechender Bewertungen. Schach will massentauglich werden, sich nicht abkapseln von denen, die es nicht können. Daher dieses Entgegenkommen besonders an Zuschauer, die das Geschehen auf dem Brett nicht sofort beurteilen können.
Statt Entgegenkommen könnte man auch sagen: Betrug.
Die mitlaufenden Zahlen und Varianten gaukeln dem Betrachter vor, die Wahrheit über eine Partie auszusagen. Sehen wir mal davon ab, dass einige dieser Bewertungen und Varianten schlicht fehlerhaft sind, da die Maschine im Hintergrund ja nicht endlos an den Stellungen rechnet, sondern nur solange, wie diese in der realen Partie auf dem Brett stehen. Ziehen die Spieler schnell, hinterlässt dies ungenaue Berechnungen.
Doch das ist nicht das größte Problem.
Eine objektive Wahrheit einer Schachpartie existiert höchstens in den Köpfen der Spieler. Wird eine ausgelassene taktische Möglichkeit angezeigt, wird nichts darüber verraten, wie schwer es gewesen wäre, diese zu finden. Für die Schachprogramme Rybka oder Houdini ist alles gleichermaßen einfach. Oder ein anderer Fall: Der Computer zeigt einen Fehler an, der Vorteil fällt von 2.52 auf 1.77 – aber der Mensch hat vielleicht genau dies absichtlich in Kauf genommen, um ein paar Figuren abzutauschen und mit zwei Mehrbauern in ein leicht gewonnenes Endspiel überzuleiten. Im Schach gibt es keine Extrapunkte für Schönheit oder Schnelligkeit, manchmal scheinen die Engines das aber zu denken.
Andersherum lobt der Computer gerne materialistische und aus menschlicher Sicht unpraktische Entscheidungen. Keine Fehler im strengen Sinne, aber oft Vorboten von Fehlern.
Wenn es also aus Sicht des Menschen schon schief läuft, ist für die Maschine oft noch lange alles in Ordnung. Sie kennt keine Nerven und kann genauso ruhig auf der grünen Wiese mit Stoffbällen jonglieren wie mit brennenden Kerzen auf dem Drahtseil.
Daher lassen Engines uns oft glauben, dass wir einen Fehler viel später begangen haben, als es in Wirklichkeit der Fall war. Sie erzeugen beim Zuschauer einen fehlerhaften Eindruck über den Partieverlauf und bestätigen den Verlierer in einer Reihe falscher Entscheidungen. Die ausgeworfenen Varianten und Bewertungen richtig zu interpretieren, ist eine Kunst, die man erst als starker Spieler erlernen kann, für einen Neuling sind diese elektronischer Datenmüll.
Enginebewertungen und Variantenvorschläge sind aber vor allem deswegen Betrug, weil sie dem User das verweigern, was er braucht und wofür er gekommen ist. Indem sie ihn an die Hand nehmen, sobald er die Webseite betritt, rauben sie ihm die Chance, sich selbst – mit seinen vielleicht noch so bescheidenen Mitteln – Gedanken über die Partie zu machen. Sie tragen dazu bei, dass der User sich niemals aus seiner von ihnen verursachten Unmündigkeit befreien kann. Rousseau würde sogar sagen, sie verpassen es, ihn zu seiner eigenen Freiheit zu zwingen.
Zwar kann man die Tools manchmal auch abschalten, aber Menschen essen aus Bequemlichkeit auch Chips und Fertigpizza, obwohl sie niemand dazu zwingt. Im Fall des Enginekonsumenten verlieren sie dabei leider auch jeden Respekt vor den Leistungen der Sterneköche. Der Ton in einem Chat während einer Liveübertragung kann ganz schön rau sein, wenn sich computerbewaffnete Amateure über das „Rumgepatze“ von Anand, Kramnik oder anderen auslassen.
Doch auch für stärkere Spieler ist die neue Technologie kein Segen. Eine besonders problematische Mischung ergibt sich bei ihrer Benutzung mit Smartphones, zumindest für die Kommunikation nach einem Mannschaftskampf. Wo früher ein Brett in der Tischmitte stand und acht erwachsene Männer durcheinander Zugvorschläge brüllten und sich darum rissen, ein paar Figuren bewegen zu dürfen, sitzen nun acht Zombies und starren wortlos auf Displays unterschiedlicher Helligkeit und Größe. Manchmal erlischt bei jemandem der Akku. Dann ist der einzige Satz des Abends oft die Frage an den Nachbarn: „Kann ich bei dir mal kurz meinen Partiegraphen sehen?“