In Seoul spielt das Computerprogramm AlphaGo gerade einen Wettkampf über fünf Partien gegen Lee Sedol, einen der besten Go-Spieler der Welt. Mensch gegen Maschine, da werden Erinnerungen wach. Vor 20 Jahren, am 10. Februar 1996, verlor der damalige Schachweltmeister Garri Kasparow in Philadelphia, USA, die erste Partie seines Sechs-Partien-Wettkampfs gegen den IBM-Computer Deep Blue. Nach zurückhaltender Eröffnung hatte der Computer seinen Springer ins Abseits manövriert, um einen Bauern zu erobern. Das sah riskant aus, denn jetzt konnte Kasparow gefährlich wirkende Drohungen gegen den König Deep Blues aufstellen. Doch der Computer, der Millionen von Stellungen pro Sekunde kalkulieren konnte, hatte berechnet, dass keine wirkliche Gefahr für ihn bestand. Deep Blue parierte alle Drohungen des Angriffskünstlers Kasparow und gewann die Partie. Maschinelle Rechenkraft hatte über menschliche Intuition triumphiert.
Ein Meilenstein in der Geschichte der Computerentwicklung und eine Sensation, denn noch nie hatte ein Schachcomputer den amtierenden Schachweltmeister in einer Partie unter Turnierbedingungen besiegt. Das sorgte in der ganzen Welt für Schlagzeilen. Teilweise auch für hysterische Reaktionen. Skeptiker sahen die Menschheit in Gefahr und fürchteten, Menschlichkeit würde bald auch in anderen Bereichen durch kalte Berechnungen von Maschinen ersetzt werden. Schachspieler glaubten, der Computer würde das Schachspielen überflüssig machen. Denn welchen Sinn sollte es noch haben, sich mit einem Spiel zu beschäftigen, dass eine Maschine besser beherrscht als jeder Mensch? In dem alle Fragen und Probleme durch die Rechenkraft des Computers gelöst schienen?
Dass der Gewinn der ersten Partie der einzige Sieg des Computers im Wettkampf bleiben sollte, den Kasparow am Ende mit 4:2 (eine Niederlage, zwei Remis, drei Siege) gewann, ist heute in Vergessenheit geraten. Das liegt auch am Revanchekampf zwischen Deep Blue und Kasparow, der ein Jahr später, im Mai 1997, in New York stattfand, und in dem Kasparow die „Ehre der Menschheit“ verteidigen wollte.
Das gelang ihm denkbar schlecht. Er gewann zwar die erste Partie des Wettkampfs überzeugend, doch in der zweiten wurde er vom Computer überspielt – und zwar auf eine Weise, wie man es von Computern noch nie gesehen hatte. Denn nach günstig verlaufener Eröffnung verzichtete Deep Blue im 37. Zug auf den möglichen Gewinn von zwei Bauern, um Kasparows Stellung weiter einzuschnüren. Bis dahin hatte man geglaubt, Schachcomputer wären durch und durch materialistisch programmiert und würden jedes angebotene Opfer annehmen, wenn sie danach nicht deutlich in Nachteil geraten. Doch Deep Blue spielte anders – und besser.
Für Schlagzeilen und Aufregung sorgte auch das Ende der Partie. Nach starkem Spiel des Computers hatte Kasparow in hoffnungslos aussehender Stellung nach 45 Zügen aufgegeben. Zu früh, wie man nach der Partie schnell feststellte. Kasparow, so lautete die Nachricht, hatte einen versteckten Trick nicht gesehen und in Remisstellung aufgegeben – der Albtraum eines jeden Schachspielers.
Aber, so fragte sich nicht nur Kasparow, wieso hatte der Computer, der bis zu 200 Millionen Stellungen pro Sekunde berechnen konnte, diese Remismöglichkeit überhaupt zugelassen? In der Pressekonferenz nach der dritten Partie, die Remis ausgegangen war, erhob Kasparow dann schwere Vorwürfe gegen das Team von Deep Blue. Er meinte, die zweite Partie würde ihn an „das berühmte Tor erinnern, das Fußballstar Maradona 1986 beim Viertelfinale der Fußballweltmeisterschaft im Spiel Argentinien gegen England erzielt hatte“. Fernsehaufnahmen haben gezeigt, dass Maradona den Ball in der entscheidenden Szene mit der Hand ins Tor gelenkt hatte. Später meinte der argentinische Superstar, dies sei „die Hand Gottes“ gewesen. Auf den Wettkampf übertragen warf Kasparow dem Team Deep Blues damit praktisch vor, sie hätten sich in die Berechnungen des Computers eingemischt und den für Computer ungewöhnlichen 37. Zug per Hand in das Programm eingegeben.
Nach diesen Manipulationsvorwürfen war die Atmosphäre des als Freundschaftswettkampf gedachten Matches vergiftet. Geholfen hat Kasparow das nicht. Je länger der Wettkampf dauerte, desto hilfloser wirkte er bei der Suche nach der richtigen Strategie gegen die Rechenkraft Deep Blues. Am Ende verzichtete er freiwillig auf eine seiner stärksten Waffen, die seinen menschlichen Gegnern seit Jahrzehnten Angst und Schrecken eingejagt hatte: eine umfassende, gründliche und über Jahre und Jahrzehnte gewachsene Eröffnungsvorbereitung. In der dritten Partie eröffnete Kasparow sogar mit 1.d3 – ein Zug, der ihm gegen seine Großmeisterkollegen wie Wladimir Kramnik, Anatoli Karpow oder Nigel Short nicht im Traum eingefallen wäre.
Ihren traurigen Höhepunkt erreichte diese Strategie in der sechsten, letzten und entscheidenden Partie des Wettkampfs. Beim Stande von 2,5:2,5 (beide Seiten hatten je eine Partie gewonnen, drei waren Remis ausgegangen) ließ sich Kasparow mit Schwarz freiwillig auf eine Eröffnungsvariante ein, von der man wusste, dass sie schlecht war. 14 Partien waren in internationalen Turnieren in dieser Variante bereits gespielt worden, 13 davon hatte Schwarz verloren. Aber Kasparow, einer der größten Eröffnungskenner aller Zeiten, spielte sie trotzdem – vermutlich, weil er nicht glaubte, dass Deep Blue die stärkste Fortsetzung tatsächlich spielen würde. Denn in dieser Variante musste der Computer eine Figur opfern – und das, so glaubte man damals, machten Computer nicht. Aber Kasparow hatte sich getäuscht. Deep Blue wählte die Fortsetzung, die ihm seine Eröffnungsdatenbanken nahelegten, opferte die Figur, gewann die Partie in 19 Zügen und den Wettkampf mit 3,5:2,5. Eine schlimmere Niederlage hat Kasparow im Laufe seiner Karriere nie erlitten und kein Mensch hat ihn je so besiegt.
Ein guter Verlierer war er jedoch nicht. Auch nach dem Wettkampf erhob Kasparow Anschuldigungen gegen IBM und deutete erneut an, Deep Blue hätte Unterstützung von seinem Team erhalten. Um diesen Verdacht erhärten zu können, verlangte Kasparow von IBM die Herausgabe der Computerlogs, in denen zu sehen war, was Deep Blue während der Partien berechnet hatte. IBM weigerte sich lange Zeit, die Logs öffentlich zu machen, was dem Verdacht, es sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, allerdings weiter Nahrung gab. Heute stehen diese Logs jedoch im Internet. Außerdem forderte Kasparow vehement und wiederholt einen Rückkampf, der von IBM jedoch immer wieder abgelehnt wurde.
Diese Streitereien warfen einen Schatten auf den Wettkampf, aber immerhin war das Abendland nicht untergegangen. Nach dem Wettkampf schnellten die Aktienkurse IBMs in die Höhe, Deep Blue wurde in zwei Teile geteilt und ins Museum verbannt, Kasparow verlor seinen Weltmeistertitel 2000 im Wettkampf gegen Wladimir Kramnik und heute spielen Softwareprogramme, die 50 Euro und weniger kosten, auf durchschnittlichen PCs besser als jeder Mensch und Deep Blue.
Auch dem Schach hat der Wettkampf nicht geschadet. Im Gegenteil: Der Computer hat dem Mensch Möglichkeiten gezeigt, die er früher nie in Erwägung gezogen hätte. Der Computer hat das Spiel bereichert und heute gibt es mehr Turniere, mehr gute Spieler und mehr junge gute Spieler aus allen Teilen der Welt als je zuvor.
Beim Wettkampf zwischen AlphaGo und Lee Sedol führt das Computerprogramm nach zwei Partien mit 2:0. Doch Weltuntergangsfantasien bleiben aus. In den 20 Jahren, die seit Kasparows Niederlage gegen Deep Blue vergangen sind, scheinen die Menschen sich immer mehr an neue technische Entwicklungen gewöhnt zu haben und nutzen sie ohne größere Bedenken.