Gegen Wesselin Topalow trug er wie gegen Aronjan in Runde eins seinen Lieblingspullover, eine Art Glücksbringer, schwarz mit roten Querstreifen. Und wie in den Runden zuvor spielte er geduldig. Viswanathan Anand musste nichts weiter tun, als abzuwarten, bis der Bulgare mit eigenen Händen seine Königsstellung demontiert hatte. Es war der dritte Sieg des Inders, den er in der neunten Runde des Kandidatenturniers in Chanty-Mansijsk einfahren konnte. Mit sechs Punkten aus neun Partien führt Anand nun ungeschlagen die Tabelle an. Einen ganzen Punkt Vorsprung hat er schon auf seinen einzigen echten Verfolger Lewon Aronjan. Aufholen muss dieser aber eigentlich anderthalb Punkte, da er den direkten Vergleich gegen Anand verloren hat und die Zweitwertung, das Pendant zum Torverhältnis im Fußball, immer gegen ihn sprechen wird. Das Turnier scheint entschieden, genau wie ich es nicht für möglich gehalten hatte.
Als Anands Vorteil hat sich erwiesen, dass er seit Beginn des Turniers an der Spitze steht. Nur auf den Sieger des Kandidatenturniers wartet das lukrative WM-Match mit Millionengage gegen Magnus Carlsen. So viel Geld und Prestige, dass die anderen bereit sind, Risiko einzugehen, um noch die Chance auf den ersten Platz zu erhalten. Aronjan, Kramnik oder Swidler, sie alle wechseln so langsam in den Panik-Modus. Immer häufiger verzichten sie auf ihre „normalen“ Eröffnungen aus ihrem angestammten, jahrelang gewachsenen Repertoire und tauschen diese gegen riskante Überraschungswaffen ein.
Lewon Aronjan spielte in der achten Runde gegen Anand schon im dritten Zug die Dame nach b3 heraus, ein provokativer und falsch aussehender Zug. Die Dame holte bald einen ungeschützten Bauern ab, wurde aber als Bestrafung von einer Meute schwarzer Figuren über das halbe Brett gejagt. Aronjan musste am Ende glücklich über die Punkteteilung sein, das Experiment war misslungen.
Anands Abstand ist groß, sogar wenn seine restlichen fünf Partien Remis enden, müsste Aronjan in dieser Zeit vier aus fünf Punkten holen. Ohne eine große Portion Risiko kommt man da nicht mehr aus, zu ausgeglichen ist das Teilnehmerfeld, in dem den Tabellenletzten Topalow (3,5 Punkte) nur anderthalb Punkte vom zweiten Platz trennen. Außer Anand hat jeder schon mindestens zwei Partien verloren.
Weil ich Anand vor dem Turnier unterschätzt habe, prophezeie ich nun fünf Runden vor Schluss seinen Sieg. Vor allem, weil seine Konkurrenten bisher alle enttäuscht haben, zu nervös und unkonstant haben sie bisher agiert. Warum sollte sich das in den letzten fünf Runden ändern?
Anand lässt sich bisher jedenfalls nicht von der Nervosität der anderen anstecken. Er spielt objektiv, effizient und begeht so gut wie keine Fehler. Für die anderen ist jedes Remis ein Schritt zurück, für ihn ist es ein Schritt näher zu seinem Ziel, einem Rematch gegen den Weltmeister Magnus Carlsen. Die Zeit ist auf seiner Seite.
Eine Hoffnung haben seine Verfolger vielleicht noch: In der elften Runde muss er gegen seinen langjährigen Rivalen Wladimir Kramnik mit den schwarzen Steinen antreten. Mich würde nicht wundern, wenn der Inder in dieser Partie wieder in seinem Glückspullover spielt. Der ist nicht nur in Sibirien erprobt: Eine der besten Partien seines Lebens, den Schwarzsieg gegen Aronjan in Wijk aan Zee 2013 bestritt Anand mit dem gleichen Oberteil.