Der älteste noch bestehende Schachclub der Welt kommt aus der Schweiz: die 1809 gegründete Schachgesellschaft Zürich. Jetzt will der Traditionsverein die Schachwelt verändern, genauer: die Bedenkzeitregeln. Im Februar 2016 organisiert die Schachgesellschaft ein Turnier mit sechs Weltklassespielern, die in Zürich im klassischen Schach und im Blitzschach gegeneinander antreten. Im Schach bedeutet „klassisch“ eigentlich, dass mit langer Bedenkzeit gespielt wird, in der Regel haben die Spieler 90 Minuten Zeit, um 40 Züge zu machen und bekommen für jeden Zug eine Zeitgutschrift von 30 Sekunden.
Die Züricher wollen den Begriff umdefinieren: Sie geben jedem Spieler nur noch 40 Minuten für die ganze Partie und 10 Sekunden Zeitgutschrift pro Zug. „Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass das Spiel schneller werden muss. Wir denken, dass in der Zukunft klassisches Schach mit einer Stunde Bedenkzeit für jeden Spieler gespielt werden kann“, erklärten die Schweizer.
Der Wunsch nach mehr Schnelligkeit ist modern, genau wie der Trend zu mehr Unterhaltung. Das sieht man schon an den aktuellen Höhepunkten im Schachkalender. Im Oktober stand der World Cup auf dem Programm, eines der wichtigsten Turniere des Jahres: Der Erste und der Zweite qualifizierten sich für das Kandidatenturnier 2016, in dem es darum geht, wer im Herbst 2016 gegen Magnus Carlsen um den Weltmeistertitel kämpft.
128 Spieler traten beim World Cup im K.-o.-System gegeneinander an. In jeder Runde spielten sie zunächst ein Mini-Wettkampf über zwei Partien mit klassischer Bedenkzeit. Wenn der Unentschieden endete, wurde das Tempo verschärft und es folgten Partien mit immer weiter verkürzter Bedenkzeit. Bis eine Entscheidung gefallen war. Am Ende gewann der Russe Sergey Karjakin. Er setzte sich in einem dramatischen Finale mit vielen Höhen und Tiefen im Blitzschach gegen seinen Landsmann Peter Swidler durch. Die beiden zeigten kein hochklassiges, korrektes Schach, aber boten den Zuschauern, die das Turnier live im Internet verfolgten, ein mitreißendes Schachfest, beste Unterhaltung.
Wenige Tage nach dem World Cup folgten die Weltmeisterschaften im Blitz- und Schnellschach in Berlin, mehr noch als der World Cup ein unterhaltsames, spannendes Schachspektakel.
Oder im November: die Schaukämpfe in St. Louis. Hikaru Nakamura, potenzieller WM-Herausforderer, derzeit die Nummer fünf der Welt und die Nummer eins der USA, spielte gegen Fabiano Caruana, ebenfalls WM-Kandidat, Nummer sechs der Welt und Nummer zwei in den USA. Parallel dazu kämpften die Chinesin Hou Yifan, Nummer eins der Frauenweltrangliste, und Parimarjan Negi gegeneinander. Der 22-jährige Inder ist der zweitjüngste Großmeister aller Zeiten und studiert an der amerikanischen Elite-Universität Stanford. In jedem Wettkampf standen 18 Partien auf dem Programm. Zwei davon wurden im „baskischen System gespielt, bei dem die beiden Gegner zwei Partien gleichzeitig gegeneinander spielen, eine mit Weiß, eine mit Schwarz. Die restlichen 16 Partien waren Blitz- oder Schnellpartien und jede einzelne davon wurde von einem dreiköpfigen Team – zwei Männer, eine Frau – lebhaft kommentiert. Vor Ort waren wenige Zuschauer, im Internet verfolgten Tausende die Wettkämpfe. Caruana gewann 10:8, Hou Yifan 11:7.
Über Langeweile kann sich der Schachfreund von heute wirklich nicht beklagen. Fast jeden Monat gibt es ein Spitzenturnier, das Großmeister mit Live-Kommentaren im Internet begleiten. Dort laden Schach-Server 24 Stunden am Tag dazu ein, gegen Gegner aus aller Welt zu spielen. Dazu kommen die zahlreichen Schachseiten, die das Schachgeschehen Tag für Tag kommentieren. Nicht zu vergessen die Datenbanken mit Millionen von Partien und allen wichtigen Begegnungen aus über 500 Jahren Schachgeschichte.
Dieses riesige Angebot verführt zur Oberflächlichkeit. Vor allem, seit der Computer bei der Analyse dabei ist. Früher haben Schachspieler auf der Suche nach dem besten Zug Tage oder Wochen analysiert, heute schalten sie den Computer ein, der in Sekunden verrät, was Weiß und Schwarz machen müssen.
Diese Entwicklung gefällt nicht jedem. Nach der Ankündigung der Züricher Organisatoren, die Bedenkzeit verkürzen zu wollen, gab es empörte Proteste. Die immer kürzeren Bedenkzeiten, so die Gegner des Vorschlags, würden Schach zur Lotterie werden lassen. Schach, so das Argument, wäre dann kein gerechtes Spiel mehr, in dem der Zufall keine Rolle spielt und der Spieler gewinnt, der besser, gründlicher und genauer nachdenkt. Schach würde zum Glücksspiel, in dem der triumphiert, der eine zufällige Möglichkeit schneller erkennt als der Gegner. Die Kritiker beschworen auch einen Niedergang der Schachkultur, weil die Spieler gar keine Zeit mehr hätten, sich tiefe Strategien auszudenken oder filigrane Feinheiten im Endspiel zu entdecken.
Allerdings: Auf der ganzen Welt gab es noch nie so viele so gute Spieler wie heute. Durch den Computer und den leichteren Zugang zum Schach wissen sie mehr über Eröffnungen und typische Strategien als viele Spitzenspieler früherer Zeiten. Früher betraten die besten Spieler der Welt nach zehn oder 15 Zügen eröffnungstheoretisches Neuland, heute steht oft erst nach 20 oder 25 Zügen eine neue Stellung auf dem Brett.
Auch mit der Gerechtigkeit im Schach ist es so eine Sache. Das zeigt das Beispiel von Michail Botwinnik, dem ersten sowjetischen Weltmeister. Botwinnik war bekannt für seine Disziplin, seine analytischen Fähigkeiten, seinen Starrsinn und seine guten Kontakte zur sowjetischen Führung. Er gilt als Patriarch des sowjetischen Schachs und Begründer der Sowjetischen Schachschule. Mit Unterbrechungen war er von 1948 bis 1963 Weltmeister. 1957 unterlag Botwinnik im Weltmeisterschaftskampf gegen Vassily Smyslow und verlor seinen Titel, den er sich jedoch ein Jahr später mit einem Sieg im Revanchewettkampf gegen Smyslow zurückholte. 1960 verlor Botwinnik seinen Titel erneut, dieses Mal an Mihail Tal. Doch ein Jahr später gewann er auch dieses Revanchematch. Ob Botwinnik tatsächlich besser gespielt hat als Smyslow und Tal, darüber kann man streiten. Aber die Revanchewettkämpfe waren ohne Zweifel unfair. So musste sich der Herausforderer nicht nur als Herausforderer qualifizieren, sondern auch noch zwei Wettkämpfe gewinnen, um den Titel zu behalten. Dem amtierenden Weltmeister hingegen reichte ein Wettkampfsieg, um Weltmeister zu bleiben.
Botwinnik hatte das Recht auf Revanche mit Hilfe seiner guten Verbindungen zur politischen Führung und zum Weltschachbund durchgesetzt. Denn in diesen Wettkämpfen kamen ihm seine ausgezeichneten analytischen Fähigkeiten zugute. Er konnte sich anschauen, warum er den ersten Wettkampf verloren hatte, welche Stärken und Schwächen sein Gegner hatte und sein Spiel im zweiten Wettkampf entsprechend anpassen.
Blitzschach spielte Botwinnik gar nicht. Zu oberflächlich, zu zufällig und wahrscheinlich nicht ernst genug.