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Chinas Aufstieg zur Weltmacht im Schach

 

Eine Runde ist bei der Schacholympiade im norwegischen Tromsø noch zu spielen und es deutet sich ein Überraschungssieger an: China hat gute Chancen, den wichtigsten Mannschaftswettbewerb im Schach zu gewinnen. Chinas Männerteam hat noch keinen Wettkampf verloren und führt mit einem Punkt vor Ungarn. Gewinnen die Chinesen in der Schlussrunde am Donnerstag gegen Polen, sind sie sicher Sieger, sogar ein Unentschieden könnte reichen. Es wäre das erste Gold für China beim Open-Wettbewerb der Schacholympiade. Und die Krönung einer Entwicklung, dem Ergebnis des sogenannten Big-Dragon-Plan, der in den siebziger Jahren nach dem Tod von Mao Zedong und mit der allmählichen Öffnung des Landes begann.

Wang YueWang Yue, Chinas Brett eins bei der Schacholympiade 2014 (Foto: Pascal Simon, ChessBase)

Während der Kulturrevolution war Schach noch verboten. China konnte erst 1978 das erste Mal überhaupt an einer Schacholympiade teilnehmen. Die Spieler waren international größtenteils unbekannt. Nur zwei der Chinesen hatten überhaupt eine Elo-Zahl – die in der Schachwelt international gültige Chiffre, die anzeigt, wie gut ein Spieler ist. Die beiden Chinesen kamen auf einen Elo-Schnitt von 2273, mehrere Hundert Punkte weniger als heutige Bundesligamannschaften in Deutschland. Am Ende landete China bei seinem Olympiadebüt auf dem 20. Platz, ein gutes, aber kein herausragendes Ergebnis.

Ein chinesischer Spieler sorgte allerdings für eine Sensation: Liu Wenzhe. In einer Kurzpartie mit Damenopfer schlug der unbekannte Chinese den Holländer Jan Hein Donner, früher einer der besten Spieler der Welt. Es war die erste Partie überhaupt, die ein Chinese gegen einen westlichen Großmeister gewinnen konnte.

In den Jahren danach wurden die Chinesen immer besser. Bei der Olympiade 1988 hatte die Mannschaft bereits einen Elo-Schnitt von 2441 und wurde Achter, 1998 lag Chinas Elo-Schnitt bei 2498, heraus kam Platz fünf, und 2008 landeten die Chinesen mit dem Weltklasse-Schnitt von 2714 Elo-Punkten auf dem siebten Platz. Noch glänzender fiel die Erfolgsbilanz bei Chinas Frauen aus. Sie feierten ihr Olympiadebüt 1982 mit einem fünften Platz. In den Jahren darauf steigerten sie sich kontinuierlich und 1998 holten sie erstmals die Goldmedaille ins Reich der Mitte – und gewannen bis zum Jahr 2004 alle folgenden drei Olympiaden.

Auch hier spielt Liu Wenzhe eine bedeutende Rolle. Nachdem er seine aktive Laufbahn beendet hatte, wurde er Anfang der achtziger Jahre Trainer. 2002 veröffentlichte er unter dem Titel Chinese School of Chess ein Buch, in dem er versucht zu erklären, was China als Schachnation auszeichnet und warum China Russland als führende Schachnation der Welt ablösen wird. Er behauptet, bereits 672 vor Christus seien in China Urformen des Schachs aufgetaucht, die auf das noch viel ältere I Ging, das berühmte chinesische Buch der Wandlungen, zurückgehen. Das I Ging, so Liu weiter, präge das Denken der Chinesen von Geburt an und deshalb, so Liu, sei es kein Wunder, dass sich das „Denken der Chinesen in natürlicher Harmonie mit der inneren Logik des Schachs befinden würde“. Mit anderen Worten: Schachtalent gehört einfach zum Wesen der Chinesen.

Tatsächlich hat China eine ganz eigene Spieletradition. Go und vor allem Xiangqi, das chinesische Schach, sind im Land weit verbreitet und beliebter als das westliche Schach. Sowohl Liu Wenzhe als auch Xie Jun, die erste chinesische Schachweltmeisterin, waren auch erfolgreiche Xiangqi-Spieler.

Allerdings liefert Liu noch eine ganze Reihe weniger mystisch-nationalistischer Erklärungen für Chinas Aufstieg zu einer bedeutenden Schachnation. Er schreibt: „Gute gesellschaftliche Bedingungen sind die Basis für jeden großen Erfolg.“ Diese guten Bedingungen sieht er in China in der Förderung des Schachs durch die Gesellschaft sowie in Auswahl, Training und Wettkampfförderung der jungen Talente.

 

Ding Liren

Ding Liren, Chinas Nummer eins, Jahrgang 1992, liegt in der Weltrangliste auf Platz 19 und spielt bei der Schacholympiade an Brett zwei (Foto: Pascal Simon, ChessBase).

Eine weitere Grundlage des Erfolgs scheint für Liu selbstverständlich zu sein: Arbeit, harte Arbeit, ja, sehr harte Arbeit. Wie die aussieht, verrät das Beispiel von Xie Jun, die 1991 einen Tag vor ihrem 21. Geburtstag als erste Chinesin Frauenweltmeisterin im Schach wurde. Den Trainingsplan zur Vorbereitung auf den Weltmeisterschaftskampf der jungen Chinesin entwickelte niemand anderes als Liu. Ein 190 Tage umfassendes Programm, in dem jede einzelne Stunde vom Aufstehen morgens um 6:30 Uhr, über Spaziergänge, Essenszeiten, Pausen und Inhalte des täglich achtstündigen Schachtrainings bis zum Zubettgehen um 22:15 Uhr genau festgelegt war.

Viel Arbeit, staatliche Förderung und ein potenzieller Talentpool von 1,4 Milliarden Einwohnern – so hat China tatsächlich gute Aussichten, die führende Schachnation der Welt zu werden. Zumal die chinesischen Würdenträger Schach als Möglichkeit sehen, das Prestige Landes zu steigern.

Sollten die Chinesen in diesem Jahr in der Schlussrunde der Olympiade doch noch scheitern und die Goldmedaille knapp verpassen, besteht eigentlich kein Grund zur Panik: Die chinesische Mannschaft ist noch jung. Der 1983 geborene Großmeister Ni Hua ist als einziger über dreißig und somit Senior der Truppe. Damit ist er mehr als doppelt so alt wie Wei Yi. Der feierte am 2. Juni, kurz vor Beginn der Schacholympiade, seinen 15. Geburtstag. Wei Yi ist damit der zur Zeit jüngste Großmeister der Welt.