Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Die Entzauberung des Schachs

 

Im Prinzip ist Schach nichts anderes als ein komplexes Tic-Tac-Toe. Während Tic-Tac-Toe aber in wenigen Minuten von jedem Erstklässler gelöst werden kann (zu Beginn ist das Spiel unentschieden, aber der zweite Spieler verliert, wenn er Mitte mit Seitenmitte entgegnet und hält das Gleichgewicht, wenn er stattdessen in eine Ecke setzt), probiert sich die Menschheit schon seit 500 Jahren am Spiel der Könige, ohne auch nur auf ein Millionstel möglicher Stellungen objektiv richtige Antworten zu kennen.

Gerade das macht den großen Reiz am Schach aus. Im Gegensatz zu Tic-Tac-Toe oder Vier Gewinnt lernt der Spieler lebenslang. Er sammelt neue Erkenntnisse über unterschiedliche Aspekte des Spiels, akzeptiert für sich neue Wahrheiten und wirft manche Vorstellungen wieder über den Haufen. Jeder Spieler vom Patzer bis zum Großmeister hat eine individuelle Sichtweise auf das Spiel und es gibt so komplizierte Stellungen, dass sie auch von zehn Großmeistern auf zehn unterschiedliche Weisen beurteilt würden.

Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes

Obwohl die Anzahl der möglichen Schachpartien angeblich größer ist, als die Anzahl der Atome im Universum, handelt es sich bei Schach aber um ein Spiel mit vollständiger Information. Im Gegensatz zu diversen Karten- oder Würfelspielen, bei denen unbekannte Karten oder zufällige Würfe das Spielgeschehen beeinflussen, gibt es im Schach in jeder Stellung prinzipiell immer einen oder mehrere objektiv beste Züge,  die die aktuelle Stellungseinschätzung aufrechterhalten.

Eine solche Stellungseinschätzung kann im strengen Sinne nur sein: „gewonnen für Weiß“, „gewonnen für Schwarz“ und „unentschieden“, auch wenn das nicht für jede Stellung bestimmt werden kann. Verbreitete Angaben wie „unklar“ oder „mit beiderseitigen Chancen“ zeugen lediglich von der Komplexität des Spiels und von der bisherigen Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes und der Rechenkraft der Maschinen, einer Stellung ein genaues Urteil zuzuweisen.

Genauso sind Sätze wie „Schwarz hat leichten Vorteil“ im Grunde genommen sinnlos, weil sich der Sprecher auf diese Weise vor einem eigentlichen Urteil drücken will oder dieses nicht liefern kann. Entweder ist der schwarze Vorteil bereits so groß, dass er auch gegen eine optimale weiße Verteidigung zwangsläufig zum Gewinn führen wird („Schwarz steht auf Gewinn“), oder Weiß kann sich mit einer Reihe von genauen Verteidigungszügen auch gegen die besten schwarzen Angriffsversuche behaupten, sodass die Stellung objektiv „unentschieden“ ist. Beides gleichzeitig geht nicht. Wegen der – zwar gigantischen – aber doch prinzipiell abzählbaren Anzahl an Möglichkeiten, die sich aus einer Stellung ableiten lassen, kann gleichzeitig nur einer der Zustände gegeben sein.

Schach ist ein Denk- und kein Gedächtnisspiel

Es heißt, wir spielen Schach, weil wir nicht genau wissen, wie man es spielt. Das ist richtig und liegt daran, dass wir uns beim Nachdenken und Beurteilen lediglich auf unsere Intuition verlassen müssen, da wir vom Großteil der Stellungen keine exakte Bewertung kennen. Da Schach in erster Linie ein Denk- und kein Gedächtnisspiel ist, gäbe es gute Gründe zu wünschen, dass es auch so bleibt. Im Gegensatz zu einem Naturwissenschaftler müsste sich der Romantiker eigentlich wünschen, dass der systematische Fortschritt ausbleibt, dass die Stärke eines Spielers lediglich ein Produkt seiner eigenen Erfahrung, seines Trainings und meinetwegen seiner allgemeinen geistigen Fähigkeiten sein soll.

Eine solche Vorstellung ist natürlich utopisch. Auch im Schach ist Fortschritt nicht aufzuhalten. Wir befinden uns im Jahre 2015 in einer Phase, in der man eine Inflation an verfügbarem Wissen und eine Inflation der Spielstärken beobachten kann. Man kann sich dabei das Schach wie einen Berg vorstellen, durch den ein Tunnel gelegt werden soll. Im Inneren dieses Berges befinden sich die kompliziertesten Stellungen, die bisher nicht exakt, sondern nur ungefähr bewertet werden können. Durch die sich von beiden Seiten nähernden Tunnelbohrer wird dieser Bereich immer weiter offengelegt und eingeengt.

Einige Stellungen schon komplett ausanalysiert

Die ältere der beiden Bohrrichtungen ist die Endspieltheorie, die im Prinzip älter ist, als das Spiel selbst. Sie setzte ein, als noch nicht einmal alle Figuren über die heutige Zugart verfügten. Während die Dame und der Läufer vor dem Mittelalter anders zogen als früher, haben einige arabische Schachstudien aus dem zwölften Jahrhundert, die neben den Königen nur Springer und Türme enthalten, auch heute noch Gültigkeit. Mit der Einführung der modernen Regeln ging es natürlich erst richtig los. Doch wie etwa in Physik oder Chemie brauchte es auch im Schach teilweise Jahrhunderte für aus heutiger Sicht einfachste Erkenntnisse. So scheinbar elementare Übungen wie das Mattsetzen mit Dame gegen Turm, Mattsetzen mit zwei Springern gegen einen Bauern oder Turmendspiele wurden teilweise erst Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts komplett gelöst und beschrieben. Vorherige Analysen waren zwar weniger weit von der absoluten Wahrheit entfernt, als die Behauptung von der Existenz des Phlogiston, enthielten aber trotzdem erhebliche Fehler.

Heutzutage haben auf diesem Gebiet längst Maschinen übernommen. Alle Stellungen mit nicht mehr als sieben Steinen auf dem Brett sind mittlerweile komplett ausanalysiert und mit einer exakten Bewertung und den entsprechenden Zugfolgen bis zum Matt versehen. Eine 8-Steiner-Datenbank soll bereits in Arbeit sein, die 6-Steiner-Version findet sich hier frei im Netz. Wie bizarr die Ergebnisse einer solchen Forschung sein können, sieht man vielleicht am besten am folgenden Beispiel:

Schach1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In dieser unauffällig erscheinenden Stellung, die unter menschlichen Spielern am ehesten mit einem Remis enden würde, verfügt Weiß über einen zwangsläufigen Gewinn in nicht weniger als 549 Zügen! Wenn Sie über einige Stunden Zeit verfügen, können Sie die Lösung hier gerne durchklicken. Dass Sie diese allerdings verstehen, sich merken, oder in einer praktischen Partie anwenden können, erscheint eher zweifelhaft. Solche Funde allein stellen also keine Bedrohung für das Schachspiel und seine Praxis dar.

Gefährlich wird es allerdings dann, wenn man auch die Gegenrichtung berücksichtigt, aus der unser Schach-Berg angebohrt wird, und zwar ausgehend von der Grundstellung. Schachspieler analysieren zwar Eröffnungen, seit es das Schach in der modernen Form gibt, aber bis zum Aufkommen des Computerschachs waren auch hier sehr selten genaue Ergebnisse vorhanden. Über einige Äußerungen des „Praeceptor Germaniae“ Dr. Siegbert Tarrasch, der Schach vor etwa hundert Jahren lehrte, kann man heute nur noch schmunzeln. Aber auch die großen Analytiker der 1960er und 1970er Jahre mussten meistens an irgendeinem Punkt ihre Analysen abbrechen und vor der zu großen Komplexität der entstehenden Stellungen kapitulieren und sich auf vorläufige Urteile wie „Weiß steht etwas besser“ verlassen. Wurden die entsprechenden Stellungen in praktischen Partien erreicht, waren Spieler, die es bis dahin geschafft haben, fortan gezwungen, ihren eigenen Kopf zu benutzen und Fehler zu machen.

Heute funktioniert das Ganze anders. Im Spitzenschach ist man offensichtlich immer weniger bereit, sich auf Stellungen einzulassen, deren konkrete Bewertung man nicht kennt. Ein beeindruckendes Beispiel war hierzu die kürzlich ausgetragene Partie zwischen dem Israeli Maxim Rodshtein und dem Polen Mateusz Bartel bei der Europameisterschaft in Jerusalem. Bartel verwendete für die ersten 34 Züge trotz einer scheinbar hochkomplizierten Stellung fast keinerlei Bedenkzeit, er hatte alles schon zu Hause auf dem Analysebrett gehabt. Als er das erste Mal kurz nachdenken musste, fehlte ihm ein ganzer Läufer … und er wusste trotzdem, dass die Stellung glatt remis war. Sein Gegner bestätigte dies in einem Interview nach der Partie.

Stellung nach dem 34. Zug in der Partie Rodhstein-Bartel
Stellung nach dem 34. Zug in der Partie Rodshtein-Bartel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Offensichtlich ist es mithilfe moderner Rechner möglich, sich, ab einem bestimmten Moment andere schlechtere Möglichkeiten verwerfend, in Stellungen vorzuwagen, in denen nur noch zehn Steine auf dem Brett verbleiben. Dies wird in den nächsten Jahren immer weniger eine Seltenheit darstellen. Auf der anderen Seite werden aber bald alle Stellungen mit 8-9 Figuren in Datenbanken katalogisiert sein. Immer öfter werden also in Zukunft die beiden Bohrer aufeinandertreffen. Das bedeutet nicht automatisch, dass der Berg dadurch komplett ausgehöhlt und abgetragen wird, genug Geheimnisse werden immer auf ihre Entdeckung warten. Doch mit jedem solchen Aufeinandertreffen fördern wir eine Möglichkeit, eine „perfekte“ Partie zu spielen. Und wir müssen uns überlegen, ob wir das eigentlich wollen. Denn wenn wir wissen, wie man Schach „richtig“ spielt, wollen wir es doch eigentlich gar nicht mehr spielen. Wir spielen ja auch kein Tic-Tac-Toe mehr.