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Ein Weltmeister in Schwierigkeiten

 

Am Ende spielte Magnus Carlsen, als hätte er keine Lust mehr. In Sekundenschnelle schleuderte er die Züge aufs Brett, als schon vieles, aber noch nicht alles verloren war. Carlsen, ein Meister des Findens kleinster Ressourcen, ließ sie alle an sich verstreichen. Als er ob er sich eine wundersame Rettung nicht mehr gönnen würde, in der letzten Runde dieses von vorne bis hinten verkorksten Turniers. Am Ende wurde sein allein gelassener schwarzer König von zwei weißen Türmen in die Zange genommen, kurz vor dem unausweichlichen Schachmatt gab der Norweger auf. Eine bittere, wenn nicht gar demütigende Niederlage gegen seinen Freund, Sekundanten und ehemaligen Klassenkameraden Jon Ludwig Hammer, der bei dem Turnier, der Norway Chess 2015, als krasser Außenseiter gestartet war und trotz dieses Sieges auf dem letzten von zehn Plätzen verblieb. Carlsen wurde Siebter. Es war, Kinderturniere ausgenommen, das mit Abstand schlechteste Ergebnis seiner Karriere.

Manch einer wird sagen: kein Wunder. Auch Weltmeister können einen Start wie den in der ersten Runde nicht so einfach wegstecken. Da überschritt Carlsen in einer nicht nur besseren, sondern bereits gewonnenen Stellung gegen den späteren Turniersieger Wesselin Topalow die Bedenkzeit, als er die Gewinnvariante noch einmal überprüfte. Er ging da fälschlicherweise davon aus, nach dem 60sten Zug noch einen Zeitbonus zu erhalten, wie es bei den meisten Turnieren üblich ist. Als die Schiedsrichter ihn über den Verlust der Partie informierten, zeigte sich Carlsen schockiert, aber auch als fairer Sportsmann, der die Verantwortung für das Missgeschick komplett auf sich nahm (während viele Schachfans Topalow Unsportlichkeit vorwarfen).

In den folgenden Tagen passierten merkwürdige Dinge. Zunächst legte Fabiano Caruana Carlsens Berliner Mauer in Schutt und Asche – nicht das erste Mal, aber einen so deutlichen Klassenunterschied zwischen den beiden sah man selten. Danach schaffte es der Norweger trotz deutlichem Vorteil mal wieder nicht, den Youngster Anish Giri zu schlagen, der immer wieder gegen den Weltmeister stichelt und ihn als seinen „besten Kunden“ bezeichnet. Und in Runde vier bekam Carlsen im Prestigeduell gegen Vishy Anand kein Bein auf den Boden, der Inder gewann glatt und fast schon zu schmerzlos. Bei einem Zwischenstand von 0,5/4 musste der Weltmeister geknickt einräumen, dass sich sein Spiel aktuell nicht auf üblichem Niveau befinde, einen direkten Zusammenhang seiner Form mit dem Geschehnis in der ersten Runde verneinte er aber.

Nach diesem Tiefpunkt wurden Carlsens Ergebnisse zwar etwas besser, nicht aber die Qualität seines Spiels. Er wirkte müde, ausgelaugt und ideenlos. Bei seinem Sieg gegen Grischuk gab Carlsen zu, dass der nicht verdient gewesen sei. Zu seiner Spielanlage gegen den Franzosen Maxime Vachier-Lagrave sagte er, so könnte man nur spielen, wenn man auf „Selbstbestrafung“ stehe. Über seinen glücklichen Sieg gegen Aronjan könne er sich nur schämen und mit dem Gegner mitfühlen. Und insgesamt wäre er froh, wenn er das Turnier möglichst schnell hinter sich bringen und vergessen könne.

Doch mit seiner Partie gegen Hammer hat er sich für den Abschluss noch eine weitere Bestrafung ausgedacht. Schon mit seinem dritten Zug verließ Carlsen ein wenig den Pfad der Seriosität, mit seinem vierten endgültig. Der Weltmeister wollte um jeden Preis eine Verflachung vermeiden, es entstand eine scharfe Partie mit ungewöhnlich vielen schlecht stehenden Figuren auf beiden Seiten. Doch Carlsen fing eher an, größere Fehler zu machen. Der Rest ist bekannt.

Dass das Turnier ein Ende der Dominanz von Magnus Carlsen einleitet, ist aber unwahrscheinlich. Schon zum dritten Mal konnte er das Turnier in seiner Heimat nicht gewinnen. Schach dürfte eine der wenigen Sportarten sein, in denen Heimspiele eher für zusätzlichen Druck sorgen als beflügeln. Die Interviewtermine, Fernsehauftritte, die ganzen bekannten Gesichter, die alle eine Runde Smalltalk oder ein Autogramm wollen …

Aber: Es könnte sein, dass sich die Spitzenspieler im fünften Jahr von Carlsens Dominanz auf sein Spiel einzustellen beginnt. Was die Eröffnungswahl angeht, zeichnet sich Carlsens Spiel zwar durch eine große Unberechenbarkeit aus, aber die Mittspiel- und Endspielführung, die Präferenz der von ihm angestrebten Stellungen verlaufen stets in ähnlichen Bahnen. Vielleicht berücksichtigen dies Carlsens Gegner in ihrer Vorbereitung mittlerweile verstärkt, vielleicht fällt es ihnen mittlerweile leichter, sich psychologisch auf eine lange Verteidigungsarbeit einzustellen, als es etwa noch Vishy Anand 2013 schaffte.

Die Evolution des Schachs ist in vollem Gange, die Spieler auf diesem Niveau zeichnen sich alle durch ihre Flexibilität und Anpassungsfähigkeit aus. Da die Top Ten ein sehr geschlossener Kreis sind, dessen Mitglieder sich bei Turnieren immer und wieder begegnen, werden sehr schnell viele Erfahrungen generiert und ins eigene Spiel eingearbeitet. Dies führt in gewissem Maße zu einer Angleichung der Spielstärken, der Carlsen nun entgegentreten muss.

Bei ihm hat man in den vergangenen zwei Jahren vielleicht etwas wenig Neues gesehen. Er produziert zwar Modellpartien fürs Lehrbuch, besonders mit den weißen Steinen, aber auch er wird sich in der nächsten Zeit neue Strategien überlegen müssen. Dass er das größte Talent all derer hat, die derzeit an der Weltspitze stehen, ist offenkundig. Er muss es nur wieder entfalten.