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Ich muss ein echter Schachspieler sein

 

Eines Tages entdeckte ich beim Durchstöbern von Schachkalendern ein Turnier in Alzenau. Alzenau, in der äußersten Ecke Unterfrankens gelegen, fast komplett umschlossen von hessischem Gebiet, aber gerade noch so Bayern. Dieses Turnier, das ungewöhnlicherweise am Samstagabend um 19 Uhr beginnen sollte, 80 Kilometer nördlich von Buchen im badischen Odenwald und 40 Kilometer südlich des hessischen Ranstadt, wo an diesem Wochenende ebenfalls Turniere stattfinden, gab mir die Möglichkeit, mal etwas zu wagen, etwas zu probieren, etwas Verrücktes: drei Turniere in 30 Stunden, in drei Bundesländern. Warum eigentlich nicht?

Die Woche verbrachte ich voller Zweifel. Ich befürchtete Ermüdung, Unterforderung, Langeweile. Ich befürchtete ostblockstämmige Profis, die mir die guten Platzierungen streitig machen würden. Ich befürchtete, an jedem der drei Standorte 1.000-mal die Frage beantworten zu müssen, was ich hier mache und ob ich nur wegen des einen Turniers extra aus Berlin angereist sei und wann es bei mir endlich mit dem Großmeistertitel klappe. Mir war lange nicht klar, wie ich es am Samstag schaffen sollte, anständig von B(uchen) nach A(lzenau) zu kommen, für die Strecke war ein schweres Gewitter angesagt worden. Ich malte mir aus, dass ich – selbst wenn ich nach einer solchen Irrfahrt jemals wieder zu Hause ankommen würde – tage- wenn nicht wochenlang keine Schachspieler, -bretter und -figuren mehr ertragen könne. Klar, es ist ein Effekt, der schon manchmal nach nur einem Turnier aufgetaucht ist. Aber was mir Angst machte, war ein Schach-Overkill.

In Buchen kam ich ohne Probleme an und gewann ebenso problemlos das Turnier. Nominell waren mir zwar einige der anwesenden Spieler etwa ebenbürtig, es war sogar ein Bundesligaspieler vom SK Schwäbisch Hall am Start, aber ich agierte umsichtig und souverän und beging im Turnierverlauf zumindest die wenigsten offensichtlichen Fehler. Mein Kopf und der restliche Körper zeigten keinerlei Ausfallerscheinungen. Sie ahnten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, worauf sich ihr Besitzer da eingelassen hatte. Die drei bis vier Fragen nach dem Anlass meiner Anwesenheit und meinem baldigen Großmeistertitel konnte ich mit geübter Coolness wegstecken. Die Siegerehrung endete etwa Viertel nach fünf bei strahlendem Sommerwetter. Alle hatten gute Laune. Die beiden U-12-Mädchen, die in der Gesamtwertung die Plätze 6 und 7 belegt hatten, grinsten über beide Ohren und präsentierten auf dem Siegerfoto stolz ihre Preisgeldumschläge. Ich verabschiedete mich, programmierte das Navi und fuhr los.

Auf dem Weg nach Alzenau merkte ich schnell, dass etwas nicht stimmte. Normalerweise fährt nach Turnieren mein Adrenalinpegel herunter, die Muskeln erschlaffen, alle Spannung entweicht dem Körper. Ich bin meistens nicht einmal in der Lage, blutige Amateure zu besiegen. Fahren tue ich wie ein Rentner. Nichts macht mir nach einem anstrengenden Tag mehr Spaß, als mich mit 80 Kilometern pro Stunde hinter einen LKW zu klemmen und mich einfach nicht mehr konzentrieren zu müssen. Und wenn ich irgendwo eine Herde Schafe sehe, halte ich an und verweile dort gefühlt bis zum Sonnenuntergang.

An diesem Tag klebte mein T-Shirt auf dem nassen Rücken. Ich musste die Spannung, die entweichen sollte, aufrechterhalten, brauchte ja noch Kraft und Konzentration für ein weiteres Turnier. Schnell war klar, dass ich vor Turnierbeginn nicht mehr meine Pension bei Alzenau aufsuchen und den Schlüssel abholen können würde, geschweige denn in Ruhe etwas zu essen oder eine Viertelstunde am Fluss spazieren zu gehen. Immerhin schaffte ich es, an einer Raststätte zu duschen und mein Shirt zu wechseln. Ich wollte mit meinem Erscheinungsbild nicht das typische Schachspieler-Klischee befeuern. Meine Bedürfnisse nach Verpflegung mussten dagegen sprichwörtlich auf der Strecke bleiben.

Eine noch größere Enttäuschung wartete auf mich in Alzenau selbst. Die ganze Stadt war an diesem Abend auf den Beinen. Bundesgartenschau, Open-Air-Musik, Weißbierfest, ein American-Football-Match der Aschaffenburg Stallions … Und was machte ich? Ich wählte inmitten all dieser Versuchungen wie ferngesteuert eine riesige kahle Halle aus, in der verstreut wenig feierlich gekleidete Schachspieler die langen Tischreihen abschritten.

Kurz vor Beginn des Turniers verschlang ich eine Bockwurst und konnte kurz den Waschraum aufsuchen. Meine Souveränität und Abgeklärtheit des Vormittags waren dahin, ich war müde, klebrig und gereizt. Und hatte Hunger. Diesem Instinkt folgend, fand ich mich in einer der längeren Pausen im benachbarten Stadion wieder, wo American Football gespielt wurde, doch die Schlange vor dem Grillzelt war zu lang. Ich hatte keine Chance, mir etwas zu kaufen, bevor die nächste Runde beginnen würde. Es war ein perfekter, warmer und windstiller Sommerabend. Ein purpurroter Sonnenuntergang bahnte sich an, das Spiel näherte sich seinem Höhepunkt, die Fans johlten, die Cheerleaderinnen tanzten und aus den Lautsprechern dröhnte Lilly Allen. Ich versuchte nachzuzählen, wie viele warme Sommerwochenenden ich in den vergangenen zehn Jahren bei Schachturnieren verbracht haben muss und kam auf ein eher drei- als zweistelliges Ergebnis. Ich inhalierte noch ein paar Minuten die feierliche, und mir doch so fremdartige Atmosphäre und trottete zurück zur dunklen, stillen Halle.

Selbst ohne meine Sinne komplett beisammen gehabt zu haben, muss ich noch ein paar Schachzüge gefunden haben, die ausreichten, die anderen Gegner zu besiegen. Ich verspürte keinen Stolz, aber doch eine gewisse Genugtuung, die zwei Turniersiege an diesem Samstag konnte mir niemand mehr nehmen. Es war kurz vor elf. Man versicherte mir, dass das nächste Restaurant um diese Zeit wohl nur in Frankfurt zu finden sei, aber erklärte mir immerhin den Weg zum nächsten McDonald’s. Nach dem Essen folgten die längsten zehn Kilometer an diesem Tag, diesmal ins Spessart-Gebirge nach Mömbris, wo ich mir ein Pensionszimmer gebucht hatte. Die Fahrt dauerte fast eine halbe Stunde, die Serpentinen konnte man in völliger Dunkelheit nur mit Tempo 30 befahren. Fernlicht. Am Ende lief mir beinahe ein Reh vors Auto und dann noch ein Fuchs. Wie durch ein Wunder blieben alle Beteiligten unverletzt. Um kurz nach Mitternacht fiel ich ins Bett, ich schlief erst ein, als ich merkte, dass ich mir so viele existenzielle Fragen stellte, dass ich sie nie und nimmer alle beantworten würde können.

Die Versuchung, am nächsten Morgen im Bett zu bleiben und am späten Vormittag nach Hause zu fahren, war groß. Warum ich weitermachte, weiß ich nicht mehr. Über Nacht war es regnerischer und kühler geworden. Die Reise hatte ihre Wirkung schon jetzt nicht verfehlt, ich hatte keine Lust mehr auf Schach. Trotzdem parkte ich das Auto nach der kurzen Fahrt an der Bürgerhalle in Ranstadts Industriegebiet und betrat den Turniersaal. Ich habe mich in diesem Moment gefragt, was in Spielsüchtigen vorgeht, wenn sie den Eingang eines Casinos passieren.

Es wurde ein sehr langer und unangenehmer Tag. Ab der ersten Runde fiel mir jeder Zug schwer. Ich hatte das Gefühl, jemand würde meinen Kopf unter Wasser gedrückt halten. Ich war langsam – beim Denken, Rechnen und Ziehen. Mehr als eine Partie gewann ich durch Glück, die einstündige Pause konnte ich nur dank Rammstein in voller Lautstärke überstehen. Ich wurde Zweiter und meine Partien gegen den späteren Ersten und gegen den späteren Dritten endeten mit einem handfesten Streit. Die beiden anderen waren allerdings ebenso auf Krawall gebürstet und auch deren Duell endete mit Geschrei und Beleidigungen. Was auch an der alten Schachuhr lag, die in Zeitnothektik schwer zu bedienen war, leicht umfiel und die Zeit sehr ungenau anzeigte.

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich nach Hause gekommen bin. Die nächsten Tage lag ich im Wachkoma und hörte Grönemeyers Flugzeuge im Bauch in Dauerschleife. Ich fühlte mich leer, mir tat alles weh. Doch das lag nicht an den langen Autofahrten und schon gar nicht an dem Ausmaß, in dem ich in den Partien geistig gefordert worden bin. Es waren die Kontraste, die ich am Sommerabend in Alzenau mal wieder aufgezeigt bekam, die schiere Masse der Schachspieler, die ich an diesem Wochenende traf. Die meisten von ihnen waren völlig in Ordnung. Aber fast alle tragen ein gewisses Etwas mit sich, das alle verbindet, das in großer Menge deprimierend ist und traurig macht. Bis zu diesem Wochenende war mir nicht ganz klar, was genau dieses Etwas ausmacht.

Schachspieler waren für mich schon immer eine Art Subspezies, faszinierend, aber nicht vollkommen. Ich wollte jemand werden, der gut Schach spielt, aber gewiss kein Schachspieler. Ich dachte, es wäre möglich. An diesem Wochenende ist mir aber aufgegangen, dass ich damit wohl gescheitert bin. Ich nahm für die nächsten paar Schüsse Adrenalin bei tickender Uhr Stress, Hunger, Müdigkeit und soziale Kälte in Kauf. Nach einer Partie musste ich mich vom Gegner beschimpfen und verfluchen lassen. Ich hätte mich jederzeit anders entscheiden können, etwas zu tun, was mir in diesem Moment mehr Spaß gemacht hätte. Ich hätte ein schönes Sommerwochenende mehrfach retten können. Aber ich tat es nicht. Ich muss ein echter Schachspieler geworden sein.